Ich legte den Telefonhörer
auf die Gabel und lehnte mich zurück. Nur einen kurzen Moment, dann
straffte ich meine Schultern und erhob mich. Noch in der Bewegung griff
ich nach dem Werkzeugkoffer.
„Robert, wir müssen los. In Landshut haben sie eine Bombe ausgegraben.“ Mein Kollege war ebenso schnell fertig und nur wenige Minuten nach dem Anruf saßen wir bereits im Auto. Für mich war es ein gewohnter Anblick, als ich in Landshut die Polizeiwagen und die Rettungswagen erblickte. Im Grunde genommen wiesen mir solche Ansammlungen immer den Weg zu meiner Arbeitsstätte. Man führte Robert und mich zu einer Baustelle, neben einem Bagger lag die Bombe. Auf einen Blick erkannte ich eine amerikanische 50-Kilo-Sprengbombe, ein eher kleines Exemplar, wie ich inzwischen wusste. Große Blindgänger wogen 50 bis 100 Zentner. Nervös fühlte ich mich nicht, diese Arbeit war schon zur Routine geworden. Beinahe mein ganzes Leben lang verdiente ich mein tägliches Brot mit dem Entschärfen von Bomben und jetzt freute ich mich nur noch auf die Rente. Mit geübten Handgriffen packte ich mein Werkzeug aus, legte es mir bereit und hockte mich auf die Fersen. Viele Jahre waren vergangen, seitdem ich genau dieses Modell zum ersten Mal gesehen hatte. Meine Hand wanderte auf das kalte, schmutzige Metall, blieb dort liegen und schon stiegen Erinnerungen in mir auf. Endlich endeten die Bombeneinschläge; dieses dumpfe Dröhnen, das den ohrenbetäubenden Lärm der Sirenen übertönte und unter dem der Boden erzitterte. Wir alle blieben stumm, ein ganzer Keller voller Menschen lauschte, um die Entfernung der Flugzeuge abschätzen zu können. Stille - das Verklingen der Sirenen erschreckte uns beinahe ebenso sehr wie zuvor ihr Aufheulen. Dann aber sprang eine Frau auf und jubelte: „Es ist vorbei! Sie werden nicht wieder kommen!“ Wir fielen uns in die Arme und dann hielten wir es nicht mehr in dem finsteren Keller aus. In unserem engen Innenhof erkannte man nicht, dass die Stadt mehrere Stunden angegriffen worden war. Alles schien unverändert. Die schmalen Häuser schmiegten sich aneinander und schirmten den Hof von der Straße und irgendwie auch vom Krieg ab. Hätten wir nicht alle Hunger gelitten und die stete Angst vor Luftangriffen verspürt, ich hätte die Kämpfe zeitweise vergessen können. Staub und Rauch stiegen mir in die Nase, der Himmel war dunstig und grau. „Seht mal hierher!“, rief eine alte Frau aus dem Nachbarhaus. Sie stand mitten im Hof und starrte zu Boden. Vor ihr lag ein graues Etwas, ich wusste nicht, um was es sich handelte. Alle näherten wir uns dem metallenen Gegenstand und schließlich flüsterte ein alter Mann: „Das ist eine Bombe. Das Ding ist nicht explodiert, was nicht heißen soll, dass es das nicht noch tut.“ Alle wichen unwillkürlich mehrere Meter zurück. „Wir müssen das Bombenentschärfungskommando benachrichtigen!“ Es dauerte Stunden, bis drei Männer im Innenhof erschienen. Zwei von ihnen trugen braune Uniformen, schwarze Stiefel. Wieder wich ich zurück, ich wollte nichts mit den Soldaten zu tun haben. In ihrer Mitte führten sie einen jungen Mann in grauer, verschlissener Kleidung. Sein Haar war kurz geschoren und er sprach nichts. Sicherlich ein Zwangsarbeiter, dachte ich mir. Er war der Einzige, der die Bombe genau begutachtete, die beiden Soldaten hielten sich Abseits. Irgendwann schrie ein Soldat: „Mach dich an die Arbeit!“ Der junge Mann blickte ihn nur an, dann schüttelte er den Kopf und sprach: „Die Leute müssen weg hier, auch die Häuser müssen geräumt werden. Wenn das Ding losgeht, fliegt alles in die Luft.“ Er sprach polnisch und ich begriff, dass ihn niemand außer mir verstand. Die Soldaten befahlen ihm erneut, mit der Arbeit zu beginnen und er versuchte ihnen mit Gesten zu erklären, dass es zu gefährlich war. Ich wollte mich nicht einmischen, doch irgendwann sprudelten mir Worte über die Lippen: „Vermutlich will er erklären, dass der Hof geräumt werden muss.“ Seltsamerweise hörte man auf mich, obwohl ich nur ein Mädchen von 15 Jahren war. Die Logik meiner Aussage schien so einleuchtend, dass niemand widersprach. Alle verließen den Hinterhof, auch die Soldaten und ich. Der junge Mann blieb alleine zurück und beim letzten Umwenden, bevor ich den Torbogen durchschritt, sah ich, wie er sich über den leblosen und doch gefährlichen Gegenstand beugte. Gerne hätte ich ihm zugesehen, doch von der Straße aus war dies unmöglich. So schlich ich mich schnell zur Vorderseite unseres Hauses und trat ein. Hastig suchte ich ein Fenster, von dem aus ich ihn beobachten konnte. Vermutlich befand er sich nicht mehr hier. Wenn er über ein wenig Verstand verfügte, dann war er schon lange durch die Häuser geflohen. Seltsam, dass ihn niemand bewachte. War die Angst vor einer Explosion stärker als die Pflichterfüllung? Der junge Mann hockte auf seinen Fersen neben der Bombe. Ich verstand nicht, wie er noch hier sein konnte. Aus der Ferne musterte ich ihn, er war dünn, wirkte beinahe ausgehungert. Seine Schulterknochen standen unter dem abgetragenen Hemd deutlich hervor und auch seine spitzen Ellbogen. Seine Wangen schienen eingefallen und unter den Augen zeigten sich tiefe Ränder. An den Augen blieb mein Blick hängen. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck. Selbst aus der Ferne gab es für mich keinen Zweifel. Es lag Todeserwartung darin, die Bereitschaft und sogar der Wunsch zu sterben. Ja, dieser Blick war mir allzu vertraut. Meine Mutter hatte mich so angesehen, als ich sie das letzte Mal lebend gesehen hatte. Wir sollten nächsten Morgen unseren Hof in Schlesien verlassen, um vor der Sowjetarmee zu fliehen. Ich hatte sie in der Frühe nach dem Erwachen mit aufgeschnittenen Adern gefunden - tot. Sie wollte sterben und dieser Fremde schien den selben Gedanken nachzuhängen. Tränen stiegen mir in die Augen, als ich an meine Mutter dachte und ich blinzelte, während ich über den Hof eilte. Ich achtete darauf, dass man mich vom Tor aus nicht sehen konnte und hockte mich dem Zwangsarbeiter gegenüber. Er brummte zuerst unwillig, dann wollte er mich mit Gesten verscheuchen. Schließlich fuhr er mich auf polnisch an: „Verschwinde hier!“ Er rechnete nicht damit, dass ich ihn verstand und er rechnete auch nicht mit einer Antwort. „Ich will dir zusehen“, erklärte ich in seiner Muttersprache. „Du sprichst Polnisch?“, fragte er überrascht. Ein Funken Lebenslust schien in sein Antlitz zurückzukehren. Schnell verflüchtigte sich dieser und er murmelte: „Dann hast du ja verstanden, dass ich dich hier nicht gebrauchen kann.“ „Ja, ich habe verstanden, aber ich bleibe trotzdem. Vermutlich wirst du dir schon Mühe geben, nicht die ganze Bude hier in die Luft zu sprengen.“ Vorsichtig näherte ich meine Fingerspitzen dem gefährlichen Unding, legte schließlich meine Hand darauf und spürte das kalte Metall. Die Bombe übte eine unerklärliche Faszination auf mich aus. Lag es an der Gefahr oder empfand ich einfach Neugierde? Ich wusste es selbst nicht, doch ich ließ meine Hand darauf liegen und musterte den gefährlichen Sprengkörper. Der junge Pole schwieg eine Weile, beobachtete mich und schüttelte dann den Kopf. „Ich kann dir nicht versprechen, dass die Bombe nicht explodiert. Das ist eine amerikanische Sprengbombe, etwa 50 Kilo schwer.“ „Was bedeutet das?“, fragte ich zögernd. Er blickte mir in die Augen und lächelte zynisch. „Ich habe noch nie eine Amerikanische entschärft. Sie ist anders als die Britischen, ich weiß einfach nicht, auf was ich achten soll.“ Wollte er nicht sterben? Bereitete er sich vor jeder Entschärfung innerlich auf den Tod vor, weil er nie wusste, wann es soweit war? Hatte ich mich so sehr geirrt? „Warum bist du dann noch hier?“ Jetzt verstand er nicht sofort. „Was soll diese Frage bedeuten? Draußen stehen die Leute von der Wehrmacht, ich kann nicht weg, ohne dass sie es bemerken und mich dafür erschießen. Es wäre mein sicherer Tod, hier habe ich wenigstens eine Chance.“ „Natürlich kannst du fliehen!“ Er wehrte sich nicht, als ich seine Hand ergriff und ihn hoch zog. Er folgte mir über den Hof, in das Haus. In dem Augenblick hörte ich die Soldaten rufen: „Wo ist er? Der Schweinehund ist abgehauen!“ Er erbleichte, doch ich zog ihn trotzdem durch die vordere Haustüre und dann rannten wir los. Die Straßen waren voller Menschen, einige Häuser weiter loderte ein Feuer und verzweifelte Löschversuche behinderten ein Durchkommen. Das Durcheinander in der brennenden Stadt rettete uns. Irgendwann blieben wir keuchend stehen. „Wir sollten nicht so laufen, wir fallen dadurch nur auf“, sprach er zwischen mehreren Atemzügen. „Sollte man uns aufhalten, behaupten wir, dass wir von dem Angriff überrascht wurden und jetzt nach Hause gehen.“ Ich lachte ein wenig unsicher, immerhin hatte ich meinen dürftigen Unterschlupf gerade für immer verlassen. Doch er sah mich an, mit wundervollen braunen Augen, die vor wiedererwachter Lebenslust nur so sprühten. Robert trat neben mich und ich blickte auf. „Was ist los?“, fragte er. „Der mickrige Blindgänger dürfte dir doch keine Schwierigkeiten bereiten.“ Ich schüttelte den Kopf und antwortete: „Ich habe gerade daran gedacht, wie ich meinen Mann kennenlernte.“ (c) Karin Sittenauer |