Abenteuer aus Tir Usheen
Beann Gulbain - Land der Elfen


Der letzte Gast

Anders, als sie gedacht hatte. Der Tod schlich nicht auf leisen Sohlen, erschien auch nicht in Gestalt eines schwarzen Hundes oder als Knochengerüst mit Sense. Stattdessen stand ein blonder Mann vor ihr, legte ihr die Hände auf die Schultern – sie zuckte nicht einmal zusammen – und küsste sie auf beide Wangen, zuerst die linke, dann die rechte. Eine Reihenfolge, vermutlich ohne Belang und ihr dennoch klar bewusst.

„Schön, dich zu sehen.“ Seine tiefe Stimme klang angenehm melodisch.

„Du bist früh dran“, antwortete sie. Erstaunlich, dass ihre Stimme nicht zitterte.

„Das ist Ansichtssache. Ich warte seit Jahrzehnten auf ein Gespräch mit dir. Wärst du ein Mensch, hätte ich dich schon lange besucht.“

Mit einer Handbewegung bot sie ihm einen Stuhl an, setzte sich neben ihn, als wären sie Freunde. „Ich bin kein Mensch und du kommst früh.“

Er griff nach der Flasche, die am Tisch stand. Jeden Abend stellte sie Wein und Gläser zurecht, für den Fall, dass jemand kam. Am Morgen räumte sie sie wieder weg. Manchmal trank sie allein. Heute hatte sie Besuch, der soeben die Flasche entkorkte und ihr und sich selbst eingoss. Er hatte lange Finger, schlanke Hände, helle Haut. Wie sie. Wie alle ihres Volkes.

„Auf Grillen in lauen Sommernächten“, sprach er und setzte das Glas an den Mund. Rosige Lippen. Kein Totenkopf. „Die letzten Tage hatte ich in der Wüste zu tun. Dort gibt es keine.“

„Sind sie gestorben?“

Lächelnd schüttelte er den Kopf. „Nein. Sie waren nie dort. Damit habe ich nichts zu tun.“

Auch sie trank. Ein guter Jahrgang. Diese Flasche hatten ihr Mann und sie noch gemeinsam gewählt, für besondere Anlässe. Besuch war etwas Besonderes und dieser, dieser war einmalig.

„Wo ist dein Mann?“, fragte der Tod.

„Er liebt jetzt eine Menschenfrau.“ Ihm gegenüber gab sie es zu. Vermutlich wusste er ohnehin alles. „Sie gebärt ihm Kinder.“

Er nickte. Angehörige ihres Volkes bekamen meist nur ein einziges Kind. Menschen dagegen waren fruchtbar. Alle zwei Jahre einen Säugling, manchmal gar noch häufiger. Vielleicht war es ganz gut, dass dieser Gast gekommen war. Er hatte sie angefasst, sie auf die Wange geküsst. Was nutzten dreihundert Jahre Leben, wenn einen niemand berührte?

„Und deine Tochter?“

Natürlich, danach fragten alle. Wie es der Jugend ging, der Zukunft. Sie hätte noch hundert Jahre gehabt. War das etwa keine Zukunft? Es konnte doch noch nicht vorbei sein, nur weil sie geboren hatte. Jetzt galt sie als geschlechtslos. Der Mann, dem sie dieses einzige Kind geschenkt hatte, war gegangen und für alle anderen zählte nur, dass sie kein weiteres bekommen würde. Bei den Menschen zählte Jungfräulichkeit, hier nur ein gefüllter Bauch.

„Sie studiert. Liest alte Schriften; hier und in den Bibliotheken der Menschen.“

„Wie lange schon?“

„Nächsten Vollmond wird sie fünfundfünfzig.“ An dem Jahrestag würde sie wieder nichts von sich hören lassen, keine Meldung, wo sie sich gerade befand.

„Solange sie hinter Büchern nicht zu leben vergisst.“

„Ich nahm an, du weißt alles. Warum fragst du? Du kennst ihre Zukunft.“

Er zuckte die Schultern. „Damit halte ich mich nicht auf. Würde ich das Leben aller Geschöpfe betrachten, bliebe mir keine Zeit für die Arbeit.“

„Das wäre in der Tat ein Jammer“, spottete sie genau in dem Moment, als er seine Hand auf ihre legte. Wieder zuckte sie nicht zurück. Der Tod war nicht kalt. Erstaunlich. Seine Finger streichelten über ihren Handrücken.

„Willst du mit mir gehen?“

Welch abgeschmackte Frage. Wie ein Jüngling bei der ersten Verabredung. Dass der Tod sie stellte, verlieh ihr ein ganz anderes Gewicht. Sanfte Finger, die über ihre Haut glitten. Ein Kribbeln. Sie fühlte es im ganzen Körper.

„Und wenn ich nein sage?“ Er zog die Hand zurück. Das hinterließ ein verzweifeltes Sehnen.

„Dann kannst du mir nicht folgen.“

Ihr Körper schrie auf. Die erste Berührung seit Jahren. Er würde sie zurücklassen, in einem Land der Schönheit, dessen Bewohner die Kunst über alles liebten, über alles, und nur noch Kunst sahen, nicht mehr einander. 

„Fragst du das jeden?“ Das war ihr wichtig.

„Die meisten würden nein sagen.“ Er lächelte kurz, schwieg lange, sah ihr in die Augen. „Ich frage nur dich.“

Sie streckte ihm ihre Hand hin, wagte es. „Ich will dir folgen.“

Wieder sein sanftes Lächeln. Er nahm ihre Hand. Ein warmes Gefühl. Es erstaunte sie noch, ebenso wunderte sie, dass sie nicht zweifelte.

Noch einmal schenkte er Wein nach. „Wir wollen ihn zu Ende trinken. Er ist zu gut, um ihn zurückzulassen.“

Sie hoben die Gläser. „Auf deine Entscheidung“, sprach er und sie lächelte. Endlich.

Später verließen sie das Land der Elfen, nach dessen Schönheit sich Menschenfrauen sehnen, wenn sie ihr dreizehntes Kind gebären. 

© Karin Sittenauer, 2005

 


 
 

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