Grogtim,
die Weiße, ist die Hauptstadt von Rotritim. Die Königsburg thront
mit ihren runden Türmen über der Stadt auf einem Felsen. Auf
der Spitze des mächtigsten der Türme, dem Bergfried, weht eine
Fahne mit den Farben Rotritims - ein goldener Drache auf rotem Grund.
Die weißen Mauern
scheinen unwirklich rein, ihnen verdankt die Stadt ihren Namen. Dazwischen
legt man fruchtbare Gärten an, mit denen die Versorgung der Bewohner
auch im Belagerungsfall gesichert wird. Unter der Burg gibt es innerhalb
eines weitläufigen Höhlensystems eine riesige Trinkwasserzisterne.
Eine Mauer umzieht
die gesamte Stadt Grogtim, vier steinerne Mauerringe schützen die
Burg noch zusätzlich. Eine schmale, gewundene Gasse zieht sich in
unzähligen Kurven den Berg zur Burg hinauf. Ein schnelles Vordringen
von Feinden wird dadurch unmöglich.
Jedoch werden die meisten
der weiß gekalchten Häuser der Stadt aus Holz vom nahen Wald
Tornior erbaut und die Dächer mit Stroh oder hölzernen Schindeln
gedeckt. Dies bedeutet eine große Brandgefahr, doch solange der mächtige
Fluss Tritim nicht versiegt, wird es stets genügend Löschwasser
geben (so beruhigen sich zumindest die Bewohner).
Grogtim ist eine Stadt
der Künste und Gelehrsamkeit. Die große Bibliothek enthält
Pergamentrollen und handschriftlich erstellte Bücher aus allen Zeiten
und Ländern. Sie wird vom Königshof selbst betreut und bestückt,
doch auch die wohlhabenden Händler stiften Abschriften von Büchern,
die meist bei den Mönchen des Tempelviertels angefertigt und mit vielerlei
Illustrationen ausgeschmückt werden. So wurde die Bibliothek immer
wieder mit neuen Gebäuden erweitert, um den vielen Schriftstücken
Platz zu verschaffen.
Die Bibliothek steht
seit der Regierung König Mundhans (1449 - ? Menschenzeitrechnung)
allen Bevölkerungsschichten offen. Durch umfassende Bildung seines
Volkes versucht er das von ihm verbotene, strenge Kastensystem, aus den
Köpfen der Bevölkerung zu tilgen. Dennoch ist dies bis heute
nicht gelungen. Die reiche Bürgerschaft lebt immer noch nach dem Motto:
"Nix Besseres kommt
nicht nach."
Manche verbieten sogar
den Kindern ihrer Dienerschaft den Besuch von Schulen, auch wenn ein solches
Verhalten schwere Strafen nach sich zieht.
Sveen Trellhoisen,
ein Bauernsohn aus dem Norden, hat sich den Traum erfüllt und Grogtim,
die weiße Stadt, besucht:
Für
einen Bewohner des nördlichen Dragdanagh gibt es drei Namen, wenn
ihn das Fernweh plagt: Kilmainagh, Samaltin und Grogtim. Die Träume
von Kilmainagh zerplatzen schnell an der düsteren, unfreundlichen
Wirklichkeit. Samaltin verdankt die sagenumwogenen Schätze und seltenen
Gewürze nur der Ausbeutung Tiredachans. Es ist eine Stadt inmitten
der Wüste und für jemanden wie mich, der das Grüne liebt,
nicht gerade einladend.
Grogtim
jedoch erfüllt alle Träume, die ich jemals hatte. Als ich die
Weiße erreichte, neigte sich der Abend über das Land. Von der
Anhöhe eines Hügels aus blickte ich zur Stadt hinüber. Die
Sonne stand in meinem Rücken, Nebel zog auf und hüllte die tiefer
gelegenen Täler in dichten Nebel. Da die Stadt selbst zu Füßen
der Burg liegt, war sie in dieses weiße, fließende Tuch des
Abends gehüllt.
Lediglich
die Türme der Stadt ragten aus der grauen Masse hervor. Das Sonnenlicht
beschien ihre roten Dächer, was allem einen märchenhaften Glanz
verlieh. Und über diesen Türmen thronte wie auf einem Meer von
Dunst und Wolken eine Burg, als würde sie geradewegs vom Himmel zur
Erde herab schweben. Die weißen Mauern schienen unwirklich rein.
In den Fenstern spiegelte sich das goldene Licht der Sonne wieder und reflektierte
es hundertfach. In dem Moment nannte ich die Weiße Stadt in Gedanken
die Leuchtende und das ist sie bis heute für mich geblieben.
Ich
betrat die Stadt mit gemischten Gefühlen, dieser Unsicherheit, wenn
man sich unendlich viel erwartet und enttäuscht zu werden befürchtet.
Gleich nach Durchschreiten des Nordtores ragte die Rückfront der großen
Bibliothek vor mir auf. Ein herrliches Gebäude mit bunten Glasfenstern,
hinter denen Kristalle hingen, um das Sonnenlicht bis in die dunkelsten
Winkel zu reflektieren. Das Ziel meiner jüngsten Träume lag vor
mir. Seitdem mich Prinz Lasitair Lesen und Schreiben gelehrt hatte, sehnte
ich mich nach Wissen, so wie ein Dürstender nach Wasser. Ehrfürchtig
schritt ich an den weißen Mauern entlang, bis ich den Marktplatz
erreichte und damit den Eingang der Bibliothek. Als ich die breiten Stufen
empor stieg, wagte ich kaum zu atmen.
Ein
entsetzlicher Anblick holte mich in die Wirklichkeit zurück. Vor einem
der großen Torflügel lag eine Frau. Ihr Kleid war zerschlissen
und schmutzig, sie stank nach Krankheit und Eiter. Schnell kniete ich neben
ihr nieder, musste mich überwinden, um ihr die Haare aus den Augen
zu streichen und tat es dennoch.
"Wie
kann ich helfen?", fragte ich.
Finster
sah sie mich an, wobei ich das Gefühl hatte, als würde sie nicht
mein Gesicht sehen, sondern irgendetwas in meinem Inneren, das mir selbst
verborgen war.
"Wasser",
hauchte sie mit dünner Stimme.
Ich
lief in die Bibliothek, sprach den ersten Mann an, den ich sah, was ihn
dazu brachte, mehrere Schritt zurückzuweichen, als könnte ich
ihm die Pest an den Hals hexen.
"Dort
draußen ist eine kranke Frau. Sie braucht einen Heiler! Wo finde
ich Wasser?"
Er
machte ein abwehrendes Zeichen. "Unberührbar!"
Dieses
Wort sollte ich noch häufiger hören, bis ich endlich in einem
lichten Innenhof einen Brunnen fand. Sollte die Frau tatsächlich die
Pest haben? Hatte ich mich bereits angesteckt? Nach einer unendlich scheinenden
Zeit kehrte ich zu ihr zurück, hob ihren Kopf an und setzte einen
irdenen Becher, den ich am Brunnen gefunden hatte, an ihre Lippen. Nachdem
sie nur wenige Schluck getrunken hatte, widmete sie mir wieder diesen durchdringenden
Blick und sprach:
"Die
Göttin segne Euch. Von nun an wird sie an Eurer Seite wandeln."
Die
Frau starb in meinen Armen und ich erfuhr bei dem verzweifelten Versuch,
ihr ein Begräbnis zu verschaffen, dass es in Grogtim vier Kasten gab.
Am niedrigsten waren die landlosen Bauern und niedrigen Arbeiter, gefolgt
von der Kaste der Bauern und Handwerker. Über ihnen standen die Krieger
und darüber die Priester und Gelehrten. Unberührbare jedoch gehörten
keiner Kaste an und waren niedriger als der Schmutz am Straßenrand
und ebenso wurde in dieser sauberen Stadt versucht, sie beiseite zu schaffen.
Niemand fasste sie an, es sei denn, er war selbst unberührbar.
Da
der König zu der obersten Kaste der Priester und Gelehrten gehörte,
unterstützte und förderte er die Wissenschaften. Deshalb stand
in Grogtim die größte und umfangreichste Bibliothek aller Länder.
Nichts geschah uneigennützig und so lernte ich als Erstes in Grogtim,
dass es kein Leuchten ohne Schatten, keinen Glanz ohne Flecken gab.
Die
folgenden Wochen bemerkte ich, dass die Bewohner Grogtims mich nicht einordnen
konnten. Obwohl sie den Schock überwanden, dass ich eine Unberührbare
angefasst hatte und mir irgendwann sogar die Hände zu reichen wagten,
blieb ich für sie ein Außenstehender. Nur deshalb vergaben sie
mir mein scheinbares Fehlverhalten der Nächstenliebe einer Unwürdigen
gegenüber. Sie erkannten nicht, zu welcher ihrer Kasten ich gehören
könnte und ich erklärte ihnen nicht, dass sie den Sohn eines
Kleinbauern vor sich sahen. Nicht, dass ich mich schämte, doch ich
wusste, dass es mir alle Möglichkeiten verbaut hätte.
Nach
sechs Monaten eingehender und einsamer Studien gewann ich nach und nach Freunde aus allen
Schichten. Dies war nur deshalb möglich, weil ich keiner der Kasten
angehörte, sonst hätte mir dies unüberbrückbare Beschränkungen
auferlegt. Vermutlich blieb ich während der Jahre meiner Studien ein
seltsames Unikum und dennoch möchte ich diese Zeit nicht missen. Grogtim
ist etwas ganz besonderes, ein Ort des Wissens und der Kunst, der vor Lebenslust
seiner Bewohner brodelt und schäumt wie die heißen Quellen von Miriath.
Sollte in dieser leuchtenden Stadt je eine Zeit anbrechen, in der alle Menschen gleich sind, dann
werde ich gerne dorthin zurück kehren.
(c) Karin Sittenauer
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