Heimat
Ein Mückenschwarm
umlagerte das schmale Bett. Satt und träge hatten sich die Insekten
niedergelassen und kümmerten sich nicht weiter darum, dass der Mann
erwachte. Sein Blut hatte als Nahrung gedient, anderes war unwichtig. Der
Mann streckte sich, stieß mit den Füßen ans Bettende und
schon wanderte eine Hand zu seinen Beinen und kratzte.
„Verdammte Biester“, brummte Jaroslav und setzte sich auf. „Ihr denkt wohl, weil ich alleine bin, müsst ihr alle auf mich losgehen!“ Er rappelte sich hoch und öffnete die Haustüre. Sanftes Morgenrot überzog den Himmel, ein Schleier durchsichtiger Wolken umspielte die Gipfel der westlichen Karpaten. Es versprach ein warmer, trockener Tag zu werden. Erneut kratzte Jaroslav die geröteten Stellen, dann zog er sich aus und sprang in den Bach, der am Haus vorbei floss. Früher hatte er sich an der Pumpe hinter dem Haus gewaschen, damit niemand ihn sehen konnte, doch das war jetzt anders. Es gab niemanden mehr, der ihn beobachten würde. Vor Kälte bibbernd kletterte er aus dem Gebirgsbach, wenigstens hatte das eisige Wasser den Juckreiz gelindert. Während Jaroslav sich anzog ließ er den Blick über das Tal schweifen. Es handelte sich um nicht viel mehr als eine Waldlichtung, auf der zwei bescheidene Häuser standen. Die Felder hatten Jaroslavs Großeltern dem Wald abgerungen, doch nun eroberte sich der Urwald die brachliegenden Flächen zurück. An einem gepflegten Acker blieb sein Blick hängen. Er müsste die Kartoffeln ernten, doch dies hätte auch noch einen Tag länger Zeit. Jetzt wo endlich die ständigen Regenfälle aufgehört hatten und der Pegel des Baches gesunken war, würde er Pater Rupert besuchen. Die letzten Wochen hatte er sich wie eingesperrt gefühlt, der einzige Verbindungsweg zur Außenwelt war überschwemmt und unpassierbar gewesen. Pater Rupert war einer der wenigen Menschen, die das Land noch nicht verlassen hatten und dies auch nicht beabsichtigten. Der Priester wollte seine Kirche nicht im Stich lassen. Ein leises Lächeln stahl sich auf Jaroslavs Lippen; er dachte an den Tag zurück, als er die Klosterschule verlassen hatte. Er war vierzehn gewesen und hatte seinem Vater auf dem Hof helfen müssen. Pater Rupert hatte ihm ein Tagebuch geschenkt und gesprochen: „Du hast ein ganzes Leben vor dir, um es zu füllen.“ Das war nun zehn Jahre her und seit mehreren Jahren schrieb Jaroslav wirklich nieder, was ihn bewegte. Seit Wochen hatte er nicht mehr daran gedacht, denn seitdem er alleine lebte, geschah wenig, das festzuhalten wert gewesen wäre. Jaroslav trat ins Haus zurück und holte das kleine Buch aus dem Versteck unter der Strohmatratze. Es war ein einfaches und mittlerweile abgegriffenes Buch, doch dieser Umstand ließ es ihm nicht weniger wertvoll erscheinen. Er setzte sich, schlug
die zuletzt beschriebene Seite auf und las:
Der nächste und
zugleich letzte Eintrag lautete:
Ohne wirklich zu lesen starrte Jaroslav auf die kleine Schrift. Vor seinen Augen tanzten Bilder - Bilder des Abschieds. Er sah erneut seine Mutter, spürte ihre Umarmung und fühlte ihre Tränen auf seinem Gesicht, als sie ihn küsste. Der Händedruck seines Vaters und die liebevollen Worte seiner Großmutter waren so deutlich in seine Erinnerung eingegraben, als wären sie erst vor einem Tag gegangen und nicht vor vier Monaten. Er erinnerte sich an Rosa, an ihre zornig funkelnden Augen, als er ihr erklärt hatte, dass er nicht mit ihnen in die Fremde ziehen wollte. „Warum?“, hatte sie gefragt und er hatte es ihr erklärt. Einer musste hier bleiben, musste ihnen in die Ferne schreiben, wenn der Krieg vorbei war und sie alle zurückkehren konnten. Er hätte sie gerne gefragt, ob sie ihn heiraten wollte, doch er hatte es nicht getan. Es wäre unfair gewesen, sie an sich zu binden, wo sie sich trennen mussten, durch seine Schuld. Er schloss die Augen und dachte an Rosas Abschiedskuss - süß, so süß. Jetzt beugte er sich
über das Tagebuch und schrieb mit kleiner Schrift:
Ein lauter Knall schreckte ihn auf, er schlug das Buch zu. Zuerst hielt er es für Donner, doch dafür war es zu kurz, endete zu abrupt, hatte einen falschen Klang. Ein Kanonenschuss - das musste es sein. War es jetzt so weit? Kam der Krieg wirklich zu ihm, in das kleine Dorf Erlenhain, das nur aus zwei Häusern bestand? Oder lag die Front bei Pater Ruperts Kloster? Jetzt herrschte Stille, doch Jaroslav ließ sich nicht davon täuschen. Erneut versteckte er das Buch und dann hastete er los. Fünfzehn mal musste er den Bach überqueren, bis er das Kloster erreichte. Friedlich und verschlafen wiegten sich die Blumen des Gartens im sanften Wind. Der ganze Ort wirkte wie ausgestorben. Jetzt erschien der Priester vor der Kirche und Jaroslav eilte auf ihn zu. „Wo sind die Leute? Sind denn alle wie meine Eltern ausgewandert?“ „Ja, kaum jemand ist geblieben. - Komm herein, für dich ist ein Brief gekommen.“ Es durchfuhr Jaroslav wie ein Messerstich, er fühlte Freude und Erschrecken zugleich. War es eine Nachricht von seinen Eltern, von Rosa? Ging es ihnen gut oder schlecht? Würden sie zurückkehren? Die Pfarrküche wirkte warm und gemütlich, so wie immer. Pater Rupert fuhr fort: „Seit drei Wochen bewahre ich ihn für dich auf.“ Er überreichte Jaroslav das Kuvert. Es war mit bunten Marken beklebt und voller Stempel. „Es ist die Schrift meiner Mutter“, jubelte Jaroslav. Vorsichtig öffnete er und zog ein Stück sorgsam gefaltetes Papier heraus. Seine Hände zitterten, als er zu lesen begann: Mein Sohn,
Jaroslav atmete tief ein, er fühlte Tränen in sich aufsteigen, Tränen der Enttäuschung, der Verzweiflung und vor allem der Einsamkeit. Doch er wollte nicht weinen, musste Stärke beweisen. Pater Ruperts Augen hingen an seinen Lippen, schließlich nahm Jaroslav sich zusammen und erklärte: „Sie fahren nach Amerika. - Sie werden nie zurückkommen.“ Der Pater nickte zögernd und dann fragte er: „Was willst du jetzt tun?“ „Ich gehe nach Hause. Ich glaube nicht an den Traum von Amerika. Zu viele wandern aus und suchen dort Arbeit. Hier habe ich ein Heim, Felder die ich bestellen kann und Wild, das ich jagen darf. Auch wenn der Boden mager ist und kaum mehr als Kartoffeln und Flachs gedeihen, es ist unser Grund und Boden, den uns niemand nehmen kann. Vielleicht werden meine Eltern doch eines Tages zurückkommen und froh sein, wenn alles in Ordnung ist.“ Wieder donnerte der Schuss einer Kanone und beide Männer schraken zusammen. Es klang viel näher und bedrohlicher als noch am Morgen. „Hoffentlich sind es die Österreicher“, sprach der Priester. „Immerhin kämpfen viele Slowaken auf ihrer Seite gegen Bismarck. Sind es die Preußen, dann Gnade uns Gott. Bleib hier, gleichgültig wer da kämpft, ein Kloster werden sie nicht zerstören.“ Jaroslav schüttelte den Kopf, er wollte alleine sein, musste nachdenken. Weshalb gingen seine Eltern so weit weg? Und Rosa! Wieso hatte sie so schnell einen anderen geheiratet? Hastig verabschiedete er sich von dem Priester und eilte den holperigen, schlechten Weg bergan. Erlenhain war seine Heimat! Er wollte nicht nach Amerika gehen und er wollte Rosa nicht wiedersehen, niemals! Seine Großmutter hatte sie immer eine Rose genannt, wild und mit Dornen. Jetzt stachen sie ihn und es schmerzte so sehr. Jaroslav roch den Rauch, noch ehe er ihn sehen konnte. Vorsichtig eilte er weiter und ahnte das Schreckliche, ohne es wahrhaben zu wollen. Noch zweimal überquerte er den Bach und dann konnte er das Feuer sehen. Gierige Flammen leckten an den Resten seines eingestürzten Elternhauses. Rauch erfüllte die Waldlichtung und wurde vom Wind die Berghänge empor gejagt. Er wusste nicht, ob die Österreicher oder die Preußen seine Heimat angesteckt hatten, es war ohne Belang. Lange Zeit verharrte er unbeweglich, starrte in das Tal hinab und konnte es nicht glauben. Dann sank er nieder, vergrub sein Gesicht in den Händen und weinte. Erlenhain brannte, er hatte alles verloren. Seltsamerweise waren es ausgerechnet die Mücken, die ihn aus seiner Starre rissen. Ihre summenden Attacken und schmerzhaften Stiche holten ihn in die Gegenwart zurück. Er schlug nach ihnen und trotzdem fielen sie in Schwärmen über ihn her. Schließlich empfand Jaroslav solche Wut, dass er aufsprang und den Hang hinab lief. Dämmerung war aufgezogen und überflutete den Ort der Verwüstung mit sanftem Licht. Immer noch qualmten die Reste der Häuser vor sich hin und doch konnte man bereits einzelne Gegenstände unterscheiden. Jaroslav sah Axt und Harke, deren hölzerne Stiele verkohlt waren. Er könnte sie wieder herrichten. Der Kartoffelacker war unversehrt, die Ernte würde ihn über den Winter bringen. Er wollte alles wieder aufbauen. - Lediglich das Tagebuch,
in dem er Rosa seine Liebe gestanden hatte, blieb für immer verloren.
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