Kilmainagh



Kilmainagh ist die Hauptstadt des Königtums Dragdanagh. Es ist eine düstere Stadt, nicht besonders groß, aus grauem, rohen Gestein gefertigt und als Trutzburg gegen Angreifer aus dem Norden oder Süden errichtet. Viereckige Türme und hohe, dicke Mauern vermögen so manchen Neuankömmling einzuschüchtern. Allerdings spielt sich dort in den Gassen und am Hof des Königs ebenso fröhliches Leben ab, wie in anderen Städten auch. Nur muss man etwas genauer hinsehen, um es zu erkennen.

Kilmainagh ist nicht nur Regierungssitz des Königs und später des Großen Rates, sondern auch Hauptumschlagplatz für Waren aller Art, vor allem aber für die landwirtschaftlichen Erträge aus der Umgebung.


Sveen Trellhoisen, ein Bauernsohn aus dem Norden, erzählte mir von seinem ersten Besuch in der Stadt:

Mein Vater war gestorben und mein älterer Bruder hatte den kleinen Hof nahe der Grenze zu Helothnatrain übernommen. Da wir im Norden nur kurze Sommer kannten, fielen die Ernten sehr gering aus. Deshalb musste ich gehen. Zuerst lebte ich als Wilderer in den Wäldern, doch auf Dauer ist das kein Leben. Ich sehnte mich nach der Nähe von Menschen und beschloss, in die Hauptstadt zu ziehen. Wo sonst sollte ich Arbeit finden? Damals ahnte ich noch nicht, dass viele verarmte Bauern so dachten. Aber das wäre eine andere Geschichte. 

Es war Sommer, als ich an einem frühen Morgen die Stadt erreichte. Aus nördlicher Richtung sieht man nur die Burg. Sie thront auf einem Berg, als wäre sie aus dem Steilhang gewachsen. Von dieser Seite aus ist sie nicht zu erreichen. Ich wanderte also um den Berg herum, bis ich auf der südlichen Seite eine steile Straße entdeckte. Diese stieg ich hoch und kam an ein festes, dunkles Tor. Nun gut, in der Dämmerung schien mir alles düster. Auf mein Klopfen antwortete niemand, erst als die Sonne ihre ersten Strahlen auf den Berg sandte, wurde das Tor geöffnet. 

Leichte Furcht übermannte mich, als ich eintrat. Wie ein dunkler Schlund umgab mich das Wachgebäude, tiefe Gewölbe wollten mich verschlingen. Immerhin war ich auf dem Land aufgewachsen, nie zuvor hatte ich eine Stadt betreten. Ich hastete hindurch und landete auf einer engen Straße, von der mehrere Gassen abzweigten. Hier herrschte reges Leben, was mich auf Grund der frühen Stunde überraschte. Eine Gruppe Männer drängte mich vorwärts, in eine der Gassen hinein. Der unebene Boden machte mich stolpern, doch ich konnte nicht stürzen, dafür war es viel zu eng. Die Menschen lachten, schwätzten und ich hörte: 

"Er muss bald kommen. Wie er wohl aussieht? Wird er um Gnade flehen?"

Ich begriff nichts, doch dem Strudel um mich herum konnte ich mich ohnehin nicht entziehen und ließ mich mit weit aufgerissenen Augen treiben, starrte um mich, entdeckte Wachen, Soldaten, Frauen in ärmlichen Kleidern und Männer mit blonden Bärten und langen Zöpfen. Die Häuser beugten sich über mir zueinander, so dass kaum Licht auf die Gasse fiel. Jedenfalls ging es bergauf, immer noch. Die Stadt war demnach auf dem Hang unter der Burg errichtet worden. Mit einem Mal spuckte mich die Gasse aus und schleuderte mich auf einen weiten Platz. 

"Er kommt!", rief jemand neben mir. 

Verwirrt blickte ich mich um. Der Marktplatz war groß. An einem Ende wehte die Fahne unseres Königs von einem Haus und auf dem Balkon des großen Gebäudes sah ich einen Mann stehen, die Hand auf der Schulter einer zierlichen Frau. Sie bildeten den einzigen Farbtupfen in all dem Grau.

"Der König behandelt die Königin wie seinen Besitz", keifte eine Frau in meiner Nähe. 

"Sie ist sein Besitz", antwortete eine Ältere.

Wieder einmal wurde ich zur Seite geschoben. Direkt neben mir stapfte ein Ochse dahin, zog mit aller Seelenruhe einen Karren durch die Menge. Wächter versuchten die Schaulustigen wegzudrängen. Der Ellbogen von einem Riesen hinter mir stieß mich vorwärts. Ich prallte gegen das Holz des Karrens, starrte nach Oben und begegnete einen kurzen Augenblick den tiefblauen Augen des Mannes, den man zum Richtplatz brachte. Stumm und ruhig sah er mich an, doch ich erkannte den Schmerz, als er sich wieder abwandte und zu der Königin blickte. Ich allein ahnte, dass er sich nicht um den König kümmerte, sondern nur Augen für die Frau an dessen Seite hatte. Woher ich es wusste kann ich nicht erklären, ich spürte es.

"Köpft ihn, köpft ihn", klang das hysterische Gekreisch eines Schaulustigen. Es widerte mich an. 

"Den König sollte man stattdessen köpfen!", brummte jemand neben mir, sich der Anonymität in der Masse und dem zweifelhaften Schutz derselben sicher. "Wie kann er seinen einzigen Bruder hinrichten lassen?"

Jetzt erreichte der Karren den Richtplatz. Der blonde Mann, von dem ich nun wusste, dass er der jüngere Bruder des Königs war, wurde vom Karren gezerrt und kniete vor dem Richtblock nieder. Mir war übel. Verzweifelt versuchte ich, den Marktplatz zu verlassen, doch ich blieb zwischen der Masse eingeklemmt. Schließlich presste ich meine Hände vor den Mund und rief gleichzeitig:

"Ich muss kotzen!"

Seltsamerweise wirkte es. Leute traten zur Seite und mühselig erreichte ich das Stadttor. Draußen setzte ich mich an den Wegrand und konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken. Das war sie also, die Hauptstadt des Königreichs Dragdanagh. Noch einmal blickte ich zurück, sah das graue, düstere Gestein, die dicken, festen Gemäuer, roch den Gestank der Menge und spürte die Enge am ganzen Körper. In dem Moment wusste ich, dass ich hier nicht leben wollte - niemals! 

"Begnadigt!", rief einer der Wächter am Tor und lachte. 

Ich begriff nichts mehr. Nicht, bis ein blonder Mann durch das Tor schritt. Er führte ein schwarzes Pferd hinter sich her und dahinter folgte die Menge der Schaulustigen. Noch einmal begegnete mein Blick dem des Prinzen, seine blauen Augen durchdrangen meine grünen, dann saß er auf und galoppierte davon. Es dauerte sehr lange, bis ich die Stadt Kilmainagh erneut betrat und beinahe fünf Jahre, bis ich die Burg von Innen sehen sollte ... doch davon erzähle ich ein anderes Mal. 

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