(c) Karin Sittenauer 2002 Die Abenteuer aus Tir Usheen

Grogtim, Hauptstadt von Rotritim
Im Jahre 1405 nach der Zeitrechnung der Menschen -
              2405 nach dem Elfenkalender

Vom Laubkehren

Bevor er den Speisesaal betrat, wusch Ajurak sich Hände und Füße, so wie es Vorschrift war. Im Grunde hätte er auch andere Kleidung gebraucht. Dazu fehlte jedoch die Zeit. Keiner der Mönche achtete besonders auf ihn, als er zwischen den Tischen hindurch ging, obwohl er zu spät kam. An der Tafel der Novizen nahm er schweigend seinen Platz ein. Vier junge Männer in tiefblauen Kutten blickten kurz zu ihm auf und wandten sich wieder ihren Tellern zu, in denen heißer Eintopf dampfte. Auch Ajurak begann zu löffeln. Diesmal schien die Suppe nur aus Zwiebeln zu bestehen. Letzten Abend waren es Rüben gewesen und an dem davor irgendwelche andere Wurzeln, deren Namen er ganz schnell zu vergessen suchte. Es genügte, dass er den Geschmack nicht mehr aus seinem Mund bekam. Gfuuhl – genauso hatte es geschmeckt. Die Geistlichen hatten eine seltsame Vorstellung davon, was sie genießbar nannten. Zuerst kam der Geist, dann der Körper. Was den Geist reinigte, musste auch dem Körper gut tun. Nun denn, der ständige Durchfall räumte Ajuraks Eingeweide sicherlich leer.

“Bist du mit dem Laub fertig?”, fragte Ychtor, der Lehrling im sechsten und damit letzten Jahr.

Jedes Jahr wurde nur ein Novize aufgenommen, sechs Jahre dauerte die Ausbildung, trotzdem saßen neben Ajurak nur vier Lehrlinge. Einer hatte die Prüfung nicht bestanden, diese Prüfung, die auf Ajurak noch zukam und von der er nicht wusste, wie sie ablief.

“Nein.” Er schluckte beschämt. “Gerade als ich fertig war, kam ein Windstoß und fegte die Blätter quer durch den ganzen Garten.”

“So, so, Wind. – Nicht sehr einfallsreich”, sprach Ychtor und sah dabei Stöckl an, den Lehrling im zweiten Jahr.

“Es ist keine Ausrede”, beteuerte Ajurak erschüttert. “Wirklich!”

Die anderen schüttelten nur den Kopf und Ajurak starrte auf seinen Teller. Mit einem Mal schmeckte die Zwiebelsuppe bitter.

 
Als der nächste Morgen anbrach, wusste Ajurak, dass es ein schöner Tag werden würde. Wer in der Stadt fremd war, klagte über den tief hängenden Nebel, doch er war kein Fremder. Der Nebel würde strahlend blauem Himmel Platz machen. Ajurak war hier in Grogtim aufgewachsen, in einem strengen Kastensystem, das keinen Aufstieg erlaubte. Mit einer Ausnahme - und die hatte der junge Mann genutzt. Er, der ehemalige Straßenjunge, verachtet und unberührbar, würde zur Priesterkaste gehören - heilkundig, zauberkundig und verehrt. Die einzige Möglichkeit, den Dreck der Armut hinter sich zu lassen, nur einmal im Leben, für einen Auserwählten, einmal im Jahr.


Unter diesen Umständen war es kein Drama, dass man ihm die unliebsamen Arbeiten auftrug. Laub rechen im großen Obstgarten des Tempelbezirks und dieses anschließend in Humus verwandeln. Eine kleine Leistung, geringe Mühe, für den großen Lohn, den Ajurak sich erwartete. Er beeilte sich. Der Garten war groß, und vom königlichen Garten der nahen Burg wurden zusätzlich Blätter herab geweht. Bis zum Abend würde er jedoch fertig sein.

Als die Sonne wie ein blasser Mond durch die Nebelschwaden spähte, war der Laubhaufen bereits kniehoch. Mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen reichte er dem jungen Mann bis zu den Hüften, und dies, obwohl Ajurak hoch gewachsen war. Der hagere Novize lächelte. Am Nachmittag, als die Schatten der Tempelmauer länger wurden, stütze er sich pfeifend auf den Rechen. Fertig! Das Leben konnte wunderbar sein, wenn man nicht in der Gosse lag.

Mit der linken Hand – diese war dem Herzen und damit der wahren Einsicht näher - malte er einen Stern in die Luft, um den Segen der Gestirne zu erbitten. Währenddessen fingerte seine Rechte in der Gürteltasche, zog das handflächengroße Stück Holz heraus, auf dem mit dunkelvioletter Holunderbeerfarbe eine Formel stand.

Langsam las Ajurak die fremden Worte. Es ging nicht um Schnelligkeit, prägte ihm sein Meister ein. Immerhin wurde der Novize erst seit drei Wochen in der Kunde des geschriebenen Wortes unterrichtet. Er konnte sich Zeit lassen, doch versprechen durfte er sich während der Beschwörung nicht. So konzentrierte er sich, nahm nicht einmal das Kinderlachen wahr, als es lauter wurde. Erst als drei Mädchen in seinen Laubberg sprangen und juchzend quer hindurch tobten, blickte er auf, mit großen dunklen Augen und offenem Mund.

“Verschwindet!”

Sie lachten nur, bewarfen sich noch einmal mit Laub und verschwanden dann hinter der nahen Gartenmauer.

“Unfassbar”, schnaubte Ajurak. “Alles wie am Morgen. Die ganze Arbeit umsonst. Das nimmt mir keiner ab.”

Mit hängenden Schultern räumte er unter dem milden Licht der roten Abendsonne den Rechen in den Geräteschuppen und schlurfte in den Speisesaal. Er wagte kaum aufzublicken.

“Unsinn”, quittierte Ychtor beim Abendbrot. “Im Tempelgarten spielen keine Kinder. Spar dir solch hirnrissige Ausreden. Merk dir eines: hier kannst du dich nicht auf die faule Haut legen, sonst bist du schneller wieder auf der Straße, als du Entschuldigung flüstern kannst!”

Die anderen Novizen grinsten schadenfroh. Ajurak schluckte schwer und senkte den Blick auf die grüne Brühe vor ihm. Der Gundermannsud schmeckte ekelhaft.

 
Ein Wildschwein. Das war ein Wildschwein! Lächerlich! Und noch lächerlicher war, dass er erst jetzt begriff. Das Blut schoss Ajurak ins Gesicht. Sie spielten ihm einen Streich! Er hätte es wissen müssen, von Anfang an. Einen Gassenjungen wollten sie nicht in ihren Reihen. Deshalb lachten sie.


Seine Finger schmerzten, so sehr verkrampfte er sie, als er den Speisesaal betrat. Wieder einmal war er Letzter, wieder achtete niemand auf ihn.

“Wer von euch war das?”, zischte er die anderen Lehrlinge an und setzte sich auf seinen Platz. Hier durfte er nicht schreien, alles musste ruhig und geordnet ablaufen. Niemand würde ihn von hier verweisen. Auf sein weiches Bett und das feste Dach über seinem Haupt wollte er nie wieder verzichten.

“Jeden Tag ein anderer”, grinste Stöckl.

“Warum?”

“Er begreift noch nicht”, lachte Ychtor.

“Was begreife ich nicht? Dass ihr boshaft seid und ich euer Opfer bin?” Ajuraks Stimme klang kalt und schneidend.

“Ach komm”, beschwichtigte Stöckl. “Was denkst du, woher ich meinen Namen habe?”

Ajurak zuckte die Schultern. Das war ihm gänzlich gleichgültig. So fuhr Stöckl von sich aus fort:

“Letztes Jahr, als ich an der Reihe war, meinte Ychtor es besonders gut. Nicht nur, dass neben mir plötzlich ein Teich entstand, nein, das ganze modrige Laub wurde hineingeweht. Als könnte fauliges Laub fliegen. Da stand ich, sollte alles wieder herausholen. Das Wasser war eisig, sogar für die Jahreszeit zu kalt.”

Ein bitterer Blick auf Ychtor zeigte, dass Stöckl noch nicht verziehen hatte. Der Musterschüler jedoch lachte.

“War gut, nicht wahr? Den Kältezauber mag ich besonders. Kribbelt so schön, wenn man ihn ausspricht und mit Wind verbunden ... ach, das sind die Freuden eines keuschen Lebens.” Die anderen grinsten. “Und du sahst so gut aus, mit den Stelzen an den Füßen, wie ein Storch mit überdimensionalen Stöckelschuhen über das Wasser stolzierend.” Wieder lachten alle, nur Ajurak und Stöckl nicht. “Wir brüllten uns vor Lachen beinahe die Lunge aus dem Hals.”

“Erst da hatte ich begriffen, dass dies die Prüfung ist”, fuhr Stöckl fort.

“Die Prüfung?”, wiederholte Ajurak.

“Ja. Seit zweihundert Jahren geht das so. Das war mein einziger Trost, dass selbst die großen Erzmagier das gleiche Elend durchmachen mussten.”

Ajurak ließ seinen Blick über die Tische gleiten, zum Oberhaupt des Ordens. “Auch er?”

“Alle.”

“Dann sollte er die Größe besitzen, diesen Schwachsinn abzuschaffen.”

“Na, sag ihm das mal”, grinste Ychtor. “Nimm etwas Gfuuhl.”

“Mir ist schlecht”, murmelte Ajurak beim Blick auf sein Essen.

 
Ein weiterer Tag, ein neuer Versuch, doch diesmal war alles anders. Ajurak wusste, dass sie ihn zum Narren hielten, und er wartete darauf. Die Arbeit schien ihm sinnlos, denn sie würde wieder platt gewalzt werden, von irgendeinem pickligen Borkenriesen, einem vielköpfigen Lindwurm oder den Obstbäumen selbst, die mit ihren langen Ästen durch das Laub wühlten. Ja, Ajurak hatte viele Ideen, die er im nächsten Jahr umsetzen würde, wenn er an die Reihe käme. Rache an den Neulingen, für Taten der Alteingesessenen. Dennoch musste er die Arbeit vollbringen. Am Abend stand er vor seinem Werk, erwartete etwas Besonderes, denn Ychtor war an der Reihe, und der Streber hatte seine Ausbildung beinahe abgeschlossen. Sein Zauber würde außergewöhnlich sein. Ajurak stand und blickte sich um. Stille. Lediglich Wolken zogen heran. Kein Sturm, kein Angriff von Titanen oder blutrünstigen Drachen. Nach wenigen Lidschlägen setzte ein Platzregen ein. Schwere Tropfen schlugen in Ajuraks Gesicht. Immer noch verharrte er. Mit Hast konnte er nichts erreichen, das wusste er mittlerweile. Hier war vorsichtige Überlegung gefragt. Ajuraks Kleidung klebte durchnässt an seiner Haut, dennoch geschah nichts.

“Ha, Ychtor! Das bisschen Regen hält mich nicht auf und solange die Blätter nicht davonschwimmen, stört es mich nicht mal!”

Triumphierend trat der Novize auf den Laubberg zu, glitt auf dem einen Blatt, das er scheinbar übersehen hatte, aus und schlitterte auf dem Hintern mitten in sein Tageswerk.

 
“Regen und ein einziges Blatt reichen aus, um dich aufzuhalten”, lachte Ychtor beim Abendbrot und alle anderen stimmten ein.

“Das war mehr”, murmelte Ajurak. “Niemals sonst läge das Laub wieder so da, wie am ersten Morgen.”

“Das ist Magie”, grinste der Musterschüler. “Illusion und Wind - damit lässt sich eine Menge bewegen. – Hier hast du etwas Brennnesseleintopf.” Mit Fingern so lang, wie sie nur adelige Angeber hatten, schob er ihm die hölzerne Schale hin.

“Es ist unwürdig.”

“Das Essen?”

“Diese Prüfung. Welchen Sinn soll sie haben? Reine Schikane.”

“Nun, es erprobt deine Ausdauer, deinen Einfallsreichtum, deine Intelligenz …”, begann Ychtor schulmeisterlich.

“… und eure Überheblichkeit.”

Mit zusammengepressten Lippen schluckte Ajurak die dunkelgrüne Brühe. Noch mehr würgte er an seiner Wut, die wie ein Henkersstrick seinen Hals zuschnürte.

 
Alles wiederholte sich in schönster Regelmäßigkeit: Sturmböe, Kinder, Wildschwein, Regen und das Gelächter im Speisesaal. Drei Wochen. Ajurak brauchte drei Wochen für eine Prüfung, die man allenfalls als bescheuert bezeichnen konnte. Bescheuert und banal. Laub rechen und zu Humus verwandeln. Ersteres war schlichtweg überflüssig, letzteres erledigte gemeinhin die Natur von selbst.

“Heute ist der Regenschauer an der Reihe”, murmelte Ajurak und ließ die Schultern hängen. Er beeilte sich nicht mehr. Wie lange er brauchte war gleichgültig, denn sie warteten ohnehin, bis er beinahe fertig war. Diesmal würde er kein Blatt übersehen, nichts, auf dem er ausgleiten konnte.

Nach Stunden setzte der Platzregen ein. Der Laubhaufen war groß und breit und Ajurak blieb erst einmal unbeweglich stehen, um keinen unüberlegten Schritt zu tun. Dann sah er es. Dort, wo er vor wenigen Atemzügen alles leergeräumt hatte, lag es. Braun, nass, glänzend und lauernd. Mit vorsichtigen Schritten ging der Novize darauf zu, bückte sich langsam, streckte seine Hand danach aus und schloss die Finger darum. Erleichtert atmete er auf. Geschafft!

Mit dem Rechen in der einen, dem Blatt in der anderen Hand drehte er sich zu seinem Tagwerk und gerade als er das letzte Blatt auf den Hügel schleuderte, glitt er auf einem Grasbüschel aus, stürzte der Längs nach zu Boden und schlug sich zu guter Letzt auch noch den Stil des Rechen gegen die Stirn. Benommen blieb er liegen, dann öffnete er die Augen und starrte ansonsten unbeweglich auf den sicherlich zerstörten Laubberg. Unverändert! Ajurak traute seinen Augen kaum.

Schnell, sehr schnell murmelte er seinen Spruch, bevor ein Blitzschlag oder eine entlaufene Herde Pferde über sein Werk kommen konnten. Er haspelte, stotterte einmal, begann von Vorne, um in einem Hustenanfall halb zu ersticken. Das war ja eine ganz neue Variante, um ihn aufzuhalten. In durchweichten und inzwischen erdigen Kleidern saß er unter kahlen Obstbäumen, an denen Knospen erschienen, die nächstes Frühjahr als halb verrottete Blätter einen neuen Novizen quälen würden.

Das musste beendet werden! Äußerlich unbewegt atmete Ajurak tief durch. Dann streckte er eine Hand nach dem Laub aus, vorsichtig, doch wer am Boden saß, konnte nicht mehr stürzen. Langsam, als müsste er einem Schlafenden die Börse aus der Tasche ziehen, sprach er die magischen Worte der Verwandlung. Die Ruhe half, der Novize verhaspelte sich lediglich ein einziges Mal. Als er endete, wuchs die Anspannung. War es vollbracht? Wie wirkte so ein Spruch? Wieso lag dort immer noch Laub?

Endlich, das Fiepen einer verirrten Spitzmaus später, kam Leben in die Blätter, Bewegung, Unruhe. Sie drehten sich. Dunkles Rot wand sich um erdiges Braun, dazwischen die letzten zartgoldenen Schimmer, die der winterlichen Verrottung entgangen waren. Schwarze Augen glänzten und dünne, gespaltene Linien züngelten. Ajurak schrie und auf der Spur seines Schreies glitten die Schlangen näher. Ihre dünnen Leiber glänzten. Ein ganzer Berg voller Kraits. Jedes Blatt ein todbringendes Gift.

Er sollte sterben. Ajurak vermochte sich nicht zu bewegen, erst recht nicht, als die erste Krait unter seine Kutte kroch, in das Hemd und die Hosen. Weitere Schlangen folgten, legten sich um seine Knöchel, seinen Hals, auf seinen Bauch.

Er wollte leben! Sein ganzer Körper zitterte. Zu viel Bewegung. Sie würden ihre Giftzähne in seine Haut schlagen. War es dem anderen Novizen, der die Prüfung nicht bestanden hatte, ebenso ergangen?

Wie lange Ajurak dort saß, wusste er nicht. Ihm schien es eine Ewigkeit und doch sandte die Abendsonne gerade ihre letzten Strahlen auf sein Gesicht. Nichts geschah. Die Schlangen blieben. Nicht nur die an seinem Körper, auch die anderen wichen nicht von seiner Seite. Neben ihm glitten sie unter Grasbüschel und Sträucher, nutzten jedes Versteck, um sich zu verbergen und doch auf ihn zu achten.

Nachtaktiv; am Tag waren sie träge und schliefen, doch nicht mehr lange und die Nacht würde anbrechen. So viel Leid wegen eines eingebildeten Beinahzauberers. Als der Hass kam, endete das Zittern. Hier saß Ajurak und lebte! Noch war er nicht besiegt. Ganz langsam hob er eine Hand, legte sie neben eine Krait und schob sie von seinem Bein. Die Schlange wehrte sich nicht, doch im Gras gelandet schmiegte sie sich an ihn, wärmebedürftig, beinahe freundschaftlich. Die dünne, gespaltene Zunge kitzelte Ajuraks Haut. Das Zickzackmuster des Schlangenrückens zeigte wie ein Blitzstrahl zu den Tempelgebäuden.

Ja, so sollte es sein. Wenn er sterben musste, dann sofort. Handelte es sich nur um einen weiteren Streich, würde er sich nicht länger der Angst hingeben und lächerlich machen. Was hatte Ychtor gesagt? Sie brüllten sich vor Lachen beinahe die Lunge aus dem Leib? Ajurak erhob sich. Immer noch spürte er keinen Schmerz, kein Gift, lediglich den wunden Stich der verletzten Eitelkeit. Als er die ersten Schritte wagte, sah er im Schatten vielfältiges Huschen. Die Kraits folgten ihm. Ein verdammt guter Illusionszauber. Noch im Speisesaal sah er sie vage neben sich, fühlte sie umso deutlicher auf seiner Haut. Eines Tages wäre auch er Herrscher über diese Magie.

Endlich trat er vor die anderen Novizen. Das Essen war beinahe beendet. Heute roch es nach Auberginen. Ein guter Geruch. Wie in der Garküche, in der ihm der Koch zuweilen Reste geschenkt hatte. Ein Lächeln der Genugtuung stahl sich auf Ajuraks Lippen.

“Ich habe das Laub verwandelt”, sprach er.

An seinem Knöchel wanden sich mehrere Kraits, krochen höher. Ajurak lief es kalt den Rücken hinunter. Während Ychtor aufstand, ihm die Hand reichte und anerkennend zu seinem Erfolg gratuliere, wünschte er ihm für diesen erschreckenden Schlangenzauber den Tod. Bewegung entstand, Köpfe schnellten aus dem Ärmel hervor und verschwanden wieder. Ychtors lange, schmale Hand zuckte zurück. Mit schreckensgeweiteten Augen hielt der Musterschüler seinen Arm und stürzte wie ein im Sturm geborstener Ast.

“Illusion und Wind”, murmelte Ajurak.

Vielleicht war er wirklich nicht der hellste Kopf, denn noch als die anderen Novizen sich zu Ychtor beugten, entsetzt seinen Puls suchten und verzweifelt um sich blickten, dachte er an Luftschlösser. Welch eine bescheuerte Prüfung. Dann sah er die Angst in den Gesichtern seiner Kameraden. Wollten sie nicht endlich aufhören, ihm etwas vorzuspielen?

“Was hast du getan?” Stöckls Stimme wechselte innerhalb der vier Worte von dumpfem Grollen zu lächerlichem Schrillen.

“Nichts”, antwortete Ajurak leise.

“Aber er ist tot!”

Sollte es wahr sein? Sollte all dies tatsächlich passiert sein? Waren die weichen Bewegungen an seinem Körper real? Ajurak zitterte von neuem.

“Wir müssen es dem Obersten melden.”

Stöckls Stimme brach und noch einmal dämpfte die Wut Ajuraks Zittern. Sie würden ihn aus dem Tempel weisen, mit dem Brandzeichen des Versagers am Handrücken in die Gosse werfen. Ehrlos für immer. Oder ihn als Mörder vierteilen. Keine Zukunft.

Als Erster bewegte sich Stöckl. Erstaunlich, wie wenig die anderen Magier auf sie achteten. Der Oberste des Ordens hätte vielleicht etwas bemerkt, doch er war nicht hier. Essend saßen die anderen an ihren Tischen, kümmerten sich um nichts als ihre eigenen Gedanken, die Wünsche, die in ihren Köpfen entstanden und verwirklicht werden wollten. Auch Ajurak hatte Pläne. Auf einem weißen Pferd dem Horizont entgegen zu reiten, die Welt mit all ihrem Unrat hinter sich zu lassen. Erst mit seinem Tod würde er wieder zu Abfall werden, nie wieder als lebender Schmutz in den Gassen betteln.

“Ihr sagt nichts”, zischte er.

Seine Stimme wurde den Schlangen ähnlicher. Die Schatten bewegten sich. Windendes Zickzackmuster, das auf die Novizen zuschnellte, vielfach biss und verschwand. Alle drei stürzten. Es ging so unglaublich leicht. Gedanken reichten. Niemand konnte ihn je wieder vertreiben, solange er seine Kraits bei sich hatte, seine Helfer. Erst jetzt dämmerte es Ajurak in letzter Konsequenz. Es waren tatsächlich seine Tiere, von ihm erschaffen und ihm hörig - ihm allein. Diesen Zauber hatte er bewirkt, nicht Ychtor, Stöckl oder die anderen, die jetzt zu seinen Füßen lagen. Damit hatte er bewiesen, dass er das Zeug zur Größe, zur Macht hatte. Die Prüfung war bestanden. Zufrieden setzte er sich an den Tisch. Die Auberginen rochen nicht nur köstlich, sie schmeckten auch hervorragend. Ein guter Tag. Das Ende seiner Versagensängste.

Im Saal herrschte ungewöhnliche Stille. Nur wiederwillig ließ sich Ajurak beim Essen stören. Er hatte gelernt, voll und ganz zu genießen, wenn es etwas zu genießen gab. Als er die Augen hob begegneten ihm unzählige Blicke. Alle schienen stumm Stöckls Frage zu stellen: “Was hast du getan?”

“Nichts”, murmelte Ajurak.

Am hinteren Ende des Saals erhob sich eine Gestalt und huschte in Richtung Türe, wollte vermutlich den Obersten um Hilfe holen.

“Ihr werdet mir nicht schaden.”

Es war ein Gemetzel, schnell und lautlos. Nur die stürzenden Körper schlugen dumpf auf den Boden. Die Magier hätten ihm gefährlich werden können, er hatte keine Wahl. Nach einem langen Blick durch den Saal wandte sich der jüngste Novize - der einzige Novize - wieder dem Essen zu. Später würde er in den Büchern nach einem Spruch suchen, mit dem er die Toten verschwinden lassen konnte. Wie gut, dass sie ihm das Lesen beigebracht hatten. Jetzt brauchte er die Lehrer nicht mehr.

Kurze Zeit später stand der Oberste des Ordens neben ihm. Ajurak verschluckte sich.

“Erzähl. Wie ist dies geschehen?” Der mächtige Zauberer setzte sich zu ihm.

Ajurak hustete. “Es … es war nicht meine Schuld. Die Blätter … wurden Schlangen … ich … weiß nicht wie … Ihr müsst mir glauben … bitte!”

“Die Prüfung hat dich überfordert.”

Dies zuzugeben hieß, die Niederlage einzugestehen. Dennoch nickte Ajurak. “Ja. Drei Wochen … sind lang.”

“Hast du die Schlangen unter Kontrolle?”

Die grauen Augen des ehrwürdigen Mannes verengten sich forschend.

“Nein … gar nicht. Sie tun, was sie wollen”, log der Novize.

“Dann helfe ich dir, sie loszuwerden”, sprach der Magier unnatürlich ruhig.

Erneut nickte Ajurak und biss dabei die Zähne zusammen. Der Oberste würde eine Möglichkeit finden, seine Kraits zu vernichten und dann ihn selbst zu töten. Ajurak musste ihm zuvor kommen. Er streckte dem Magier die Rechte hin.

“Danke für Eure Hilfe.”

Der mächtige Zauberer hatte einen starken, angenehmen Händedruck. In Ajuraks Ärmel entstand Bewegung.


 © Karin Sittenauer
 

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