Die Mühle


Ein Stein im Schotterbeet an der Hauswand lag schief. Lena beugte sich nieder und richtete ihn gerade. Seit Jahren war sie die Frau im Haus. Sie musste alle Aufgaben der Mutter übernehmen, alle.

Eine Kohlmeise hopste aufgeregt von einem Ast zum anderen, im Schnabel das Futter. Lena konnte die Jungen im Nest piepsen hören, jedoch nur, wenn sie direkt darunter stand. Der Gebirgsbach trug die Wassermassen der Schneeschmelze mit sich und füllte die Luft mit stetigem Getöse. Dies gehörte zum Leben, ebenso wie das Klappern des Mühlrads.

Noch eine zärtliche Berührung des Steines, dann trat Lena auf das Mühlrad zu, legte die Hand auf den Hebel, der es feststellte. Hinter ihr flog die Kohlmeise ins Nest. Energisch stellte sie den Hebel um, das schwere Mühlrad kam zur Ruhe, bebte einen Augenblick vor verhaltener Kraft, ein Beben, das im Holz entlang wanderte und auf Lenas Hand überging. Sie schloss die Augen. Diese Momente liebte sie. Atemzüge des Stillstands.

Als sie die Augen wieder öffnete, erblickte sie etwas Helles unter den Bäumen. Am gegenüberliegenden Ufer des Baches wuchsen Blumen. Weiß waren ihre Blüten, bleich die Blätter und grün die Stängel. Vorsichtig blickte sich Lena um. Sie war allein, der Vater saß wie jeden Abend im Wirtshaus.

Schnell rannte sie los, balancierte sogleich über den Baumstamm, der einen Steg über das Wasser bildete und erreichte das andere Ufer. Nie zuvor hatte Lena die Mühle verlassen. Dem dunklen, fremden Wald schenkte sie nur einen kurzen Blick. Zu ihren bloßen Füßen blühten die weiße Blumen. Lena bückte sich und pflückte einen kleinen Strauß. Die Abendsonne spiegelte sich auf dem bewegten Wasser, das über Felsen strömte, um danach unter Farne abzutauchen. Dann balancierte Lena zurück zu der kleinen, einsamen Mühle. 

Vor dem langen Schotterbeet kniete sie nieder, dachte an ihre Kinder. Sie hatten nicht lange gelebt. Keinen Tag, nicht einmal eine Stunde, nur wenige Minuten. Nie hatte Lena sie in den Armen gehalten. Hier war ihr steinernes Bett von Beginn an. Nur in ihrem Leib waren sie ihr nah gewesen und für immer in ihrem Herzen. Kleine Schwestern und zugleich Töchter. Langsam legte Lena die Blumen zwischen die Steine. Wie gerne würde sie hier ein Beet anlegen, mit freundlichen Blüten, die im Wind für die unschuldigen Wesen tanzten. Doch der Vater erlaubte es nicht. 

Langsam verschwanden die letzten Sonnenstrahlen hinter den Berggipfeln. Zeit, um ins Haus zu gehen. In dem Moment als sie die Haustüre erreichte, wurde sie an der Schulter gepackt und herumgerissen. Unvermittelt schlug er ihr ins Gesicht.

„Dorthin werden keine Blumen gelegt!“, schrie der Vater. „Soll es jeder wissen? Willst du uns verraten? Noch einmal und du endest wie sie. Hast du mich verstanden?“ Sein breiter Brustkorb hob und senkte sich in kräftigem Atem. Er stank nach Bier. „Und warum bist du so blass? Du trägst doch nicht schon wieder einen Balg!“

Mit zitternder Stimme antwortete Lena: „Nein, tu ich nicht, ich bin nicht schwanger.“

Jetzt lachte er. Mit einer Hand steckte er ihr den Strauß weißer Blumen in den Ausschnitt, mit der anderen griff er nach ihrer Brust. Sie wich zurück. Er drückte ihr nasse Lippen unters Kinn, grapschte in ihr Mieder. Lena stieß mit dem Rücken an den Hebel, er stellte sich um. Vom Wasser vorwärts getrieben begann sich das große, hölzerne Mühlrad hinter ihr zu drehen, setzte eine Reihe von Zahnrädern in Gang und damit das Mühlwerk.

Das war dem Vater gleichgültig. Er drückte sich noch näher an seine Tochter, begann ihren Rock hochzuziehen. Lena wollte ihm entkommen, wand sich aus seinen Armen und schlüpfte zur Seite. Dafür würde er sie wieder schlagen. Blumen glitten zu Boden. Weiße Blüten auf dunklem Gras, zart und fein. Des Vaters massiger Körper taumelte. Schwer stürzte er gegen das Mühlrad. 

Einen Moment stand er still und aufrecht, dann beobachtete Lena, wie seine Beine über der Erde schwebten. Jetzt fuchtelte er mit den Händen, versuchte seine Hose vom Holz zu lösen, doch das Mühlrad hob ihn mit sich, drehte sich weiter, bis er sich oben befand und auf der anderen Seite in die Tiefe sank. Das zusätzliche Gewicht hielt das Rad an, doch schließlich riss der strömende Bach es noch einmal hoch.

„Den Hebel! Stell den Hebel fest!“

Doch Lena konnte sich nicht bewegen, starrte nur auf den Körper, der wieder eine Umdrehung mitmachte, wieder in das Wasser sank und dort verblieb, bis er erneut hochgerissen wurde.

„Halt es an, dumme Kuh! Halt das verfluchte Rad an!“

Erst einige Atemzüge später spürte die junge Frau ihren Körper wieder. Sie ging auf den Hebel zu, legte eine Hand darauf. Als der Vater erneut in die Fluten tauchte, am tiefsten Punkt angekommen war, kam das Rad zum Stillstand. Das Beben ließ Lenas Hand erzittern. Sie schloss die Augen, fühlte die leichte Bewegung und sah die Bilder vor sich. Bilder von ihrer erstgeborenen Tochter, als der Vater sie vor vielen Jahren ans Mühlrad gebunden hatte und in die Tiefe sinken ließ. In dem Moment stellte sie den Hebel fest. Nur das Brausen des von der Schneeschmelze strömenden Baches erfüllte die Luft. Keine Schreie.

Lange Zeit stand Lena unbeweglich und starrte ins Wasser. Wenn er sich losmachen könnte, auftauchte und sie zu Tode prügelte... Atmete er noch? War er schon tot? Wie lange dauerte es, bis ein Mensch starb? Bei ihrer Tochter hatte es nicht lange gedauert, doch sie war ein Säugling gewesen, gerade geboren. Der Vater war ein großer Mann.

Sterne überzogen den Himmel und verblassten wieder, bis Lena sich schließlich bewegte, das Rad frei machte und zusah, wie es sich erneut zu drehen begann. Diesmal stellte sie den Hebel fest, als der Vater oberhalb des Wassers hing. Seine Augen waren geöffnet, starrten Lena an.  Als sie ihn losschnitt, zitterten ihre Hände. Was, wenn er nach ihr griff, sie packte, so wie damals, beim ersten Mal? 

Er stürzte zurück in den Bach, dümpelte einen Augenblick vor sich hin und trieb schließlich davon. Nein, ihn wollte sie nicht neben ihren Töchtern begraben. Zu ihren bloßen Füßen lagen die weißen Blüten, doch Lena sammelte sie nicht auf. Über taunasses Gras ging sie zu den Gräbern und kniete sich nieder. Behutsam hob sie den ersten Stein heraus. Jetzt würde sie Blumen pflanzen.

© Karin Sittenauer 2001




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