Nell


Es fällt mir nicht leicht, diese Geschichte zu erzählen. Vielleicht weil ich die Ereignisse immer als Geheimnis bewahrte, oder weil ich mir nicht sicher bin, ob ich damals richtig gehandelt habe. Eines jedoch weiß ich, die Ereignisse dieser zwei Tage haben mich mein ganzes Leben nicht mehr losgelassen.

Ich kann mich noch so gut an den Abend erinnern, als ich in der kalten Küche meines Elternhauses saß und eine Tasse Kräutertee trank. Wir hatten gerade meine Mutter begraben, die Trauerfeier war überstanden und nun übernachtete ich im Zuhause meiner Jugendzeit.

Die Erinnerung ließ mich das Klappern von Geschirr hören und Gerüche meiner Kindheit wiederaufleben: frisch gerösteten Toast mit Orangenmarmelade. In Wirklichkeit aber war ich alleine und nichts als Stille umgab mich.

Ich nippte an meinem Tee als die Türglocke schellte. Zuerst bewegte ich mich nicht, meine Beine fühlten sich schwer an, doch noch träger war mein Geist. Für diesen Tag hatte ich genug von Verwandten und alten Freunden der Familie. Wieder klingelte es, hartnäckig und drängend. Widerwillig erhob ich mich, schritt den langen, hohen Gang entlang und öffnete die bleiverglaste Haustüre.

„Guten Abend“, sprach mich ein mir unbekannter Mann an.

Während ich den Gruß erwiderte, überlegte ich, ob ich den ersten Makler vor mit hatte, der mir das ererbte Haus weit unter Preis abschwatzen wollte.

„Haben Sie ein Zimmer frei?“, fragte er freundlich.

„Was?“

„Nun, ich fragte, ob Sie ein Zimmer für mich haben.“ Er lächelte und deutete auf das Schild neben der Türe. „Zimmer zu vermieten“ stand darauf.

„Oh“, murmelte ich irritiert. „Das ist von meiner Mutter.“

„Kann ich Ihre Mutter sprechen?“

Seine Stimme hatte einen amüsierten Klang und er sprach mit leichtem Akzent. Seine Augen musterten mich von oben bis unten, wie ich in meinem schwarzen, feinen Kostüm vor ihm stand.

„Nein, können Sie nicht. Meine Mutter ist tot.“

Seine Belustigung wich einem Ausdruck wahrer Bestürzung. „Das tut mir Leid“, entschuldigte er sich.

„Das braucht es nicht, oder haben Sie sie gekannt?“

Mutter wäre enttäuscht von mir, sie hatte ihre Gäste immer freundlich, eben mütterlich, behandelt. Er schüttelte den Kopf und erklärte:

„Ich bin zum ersten Mal in der Stadt.“ Ein kurzes Zögern. „Können Sie mir ein anderes Haus empfehlen?“

„Wenn ich ehrlich bin, ich war die letzten Jahre selbst nicht oft in diesem Viertel. Früher gab es drei Straßen weiter eine kleine Pension, ich weiß aber nicht, ob sie noch existiert.“

Er hatte schöne Augen, selbst im schummrigen Licht von Mutters uralter Lampe konnte ich das tiefe Blau erkennen.

„Wie finde ich dort hin?“

„Das ist ein wenig kompliziert.“

Ich begann zu erklären und er versuchte, sich den Weg einzuprägen. Er war etwa in meinem Alter, vielleicht ein, zwei Jahre älter. Trotz seiner verwaschenen Jeans, der schwarzen Lederjacke und dem Rucksack als einzigem Gepäck strahle er eine gewisse Eleganz aus. Er nickte mir zu, schulterte den Rucksack und wandte sich um. - Jede Bewegung vollführte er mit lässiger Leichtigkeit. Auch ich wandte mich um, blickte in den hohen, düsteren Gang zurück, sah die leere Küche vor mir und plötzlich rief ich:

„Warten Sie!“ Er blieb stehen, seine blauen Augen musterten mich fragend. „Ich habe nichts zu Essen im Haus, aber leere Zimmer gibt es genügend.“

So kam es, dass er hinter mir durch die Türe trat und ich ihm ein Zimmer überließ; zur Straßenseite, so wie er es erbat. Ich verlangte kein Geld von ihm. Ich war nur froh, dass noch ein Mensch unter diesem Dach schlief, die alten Balken krachen hörte und die gleiche Luft atmete, denn niemals zuvor hatte ich alleine in diesem großen Haus übernachtet.

Träge blinzelnd schüttelte ich den Schlaf ab und versuchte auf dem Wecker die Uhrzeit zu entziffern. Jäh fuhr ich in die Höhe. Zehn Uhr! Wie konnte ich so lange schlafen, wo ich einen Gast beherbergte? Mutter würde sich im Grab umdrehen! Ich wusch mich rasch, zog mir Jeans und Bluse über, band meine wirren Haare zusammen und eilte die Treppe zur Küche hinab. Tom, wie er sich vorgestellt hatte, saß am Tisch und trank Tee. Als er mich kommen sah, stand er sofort auf.

„Setzen Sie sich“, forderte er mich auf. „Das Frühstück ist fertig.“

„Ich habe verschlafen“, entschuldigte ich mich.

Er lächelte und bat mich erneut, Platz zu nehmen, mit einer Gebärde, als würde er häufig Gäste bewirten, vornehmere Gäste als mich. Dann schenkte er mir Tee ein, brachte frisch gerösteten Toast und Orangenmarmelade.

„Woher kommen Sie, Tom?“, fragte ich.

„Irland.“ Eine knappe Antwort, keine nähere Erklärung. Schnell lenkte er ab: „Wollen Sie Eier mit Speck?“

„Nein, danke. Es tut mir wirklich Leid, dass ich kein Frühstück zubereitet habe.“

„Ich denke, wenn ich nicht für das Zimmer bezahle, dann kann ich für das Essen sorgen. Ich koche gerne und Toast zu rösten ist nun wirklich keine Arbeit.“

Ja, er hatte die Ausstrahlung eines Mannes, der zum Vergnügen kochte und es bereitete ihm Freude, weil er nicht dazu gezwungen wurde. Er setzte sich mir gegenüber und fragte:

„Ist die Universität weit weg von hier?“

Ich nickte und antwortete immer noch ein wenig schläfrig: „Ziemlich. Quer durch die ganze Stadt. Wenn Sie zur Uni wollen, dann fahren Sie mit mir, ich arbeite dort.“

Er blickte mich einen Moment lang überrascht an und ich fühlte, dass er mich soeben in die Schublade Sekretärin steckte. Ich machte mir dennoch nicht die Mühe, ihm zu erklären, dass ich als Dozentin für Frühgeschichte arbeitete. Ich war einfach noch zu müde, um mich zu unterhalten.

Eine Viertelstunde später saßen wir im Auto. Wir sprachen wenig, doch ich war mir seiner Nähe intensiv bewußt. Ich hätte gerne seine Beine berührt, meine Hand darauf gelegt. Der Wunsch war so stark, dass meine Handflächen kribbelten und ich mich hartnäckig am Lenkrad festhielt, um dem Drang nicht nachzugeben. Er fragte nach Professor Bauer und ich führte ihn vor das Büro. Danach hielt ich einigermaßen zerstreut meine Vorlesung.

Der Abend dämmerte bereits, als ich vor meinem Elternhaus einparkte. Ich wusste nicht, ob Tom hier war, er hatte nicht gesagt, wie lange er bleiben würde. Aber ich hoffte, dass ich ihn noch einmal treffen würde. Als ich jedoch die Haustüre aufschloss und eintrat, stieg der wohlige Geruch von Essen in meine Nase. Schon rief er durch die Küchentüre:

„Nell, haben Sie Hunger?“

Mich hatte noch nie jemand Nell genannt, nur Nelly oder Nella, doch es klang schön, wie er es sagte. Ich trat in die Küche und sah den gedeckten Tisch.

„Sie haben gekocht?“, fragte ich überrascht.

„Nur Fisch mit Kartoffeln.“ Er lächelte beinahe entschuldigend. „Typisch irisch. Die meisten meiner Verwandten sind Fischer. Es ist das Einzige, das ich wirklich zubereiten kann.“

„Sie sind kein Fischer?“

Die Frage war überflüssig, denn er hatte nicht die Ausstrahlung eines schwer körperlich arbeitenden Mannes. Seine Art sich zu bewegen deutete auf einen Künstler hin, einen Goldschmied oder ähnliches. Seine Bewegungen wirkten ruhig, besonnen. Was er tat machte er sorgsam, als könnte er sich keinen falschen Handgriff erlauben.

„Die See birgt nicht mehr genug Fisch, um uns alle zu ernähren“, erklärte er mir. „Der andere Teil meiner Verwandten arbeitet im Ausland, so wie ich.“

„Typisch irisch, eben“, lachte ich und er lachte mit.

Er hatte Wein gekauft und Kerzen auf den Tisch gestellt. Mit wenigen Mitteln erreichte er, dass die düstere Küche meiner Mutter freundlich wirkte. Oder war es nur seine Anwesenheit, die mir alles freundlicher erscheinen ließ? Ich beobachtete ihn, während er das Essen auf den Tisch stellte, den Fisch zerlegte und auf meinem Teller anrichtete.

Ich sehnte mich danach, seine Finger zu spüren und wie zufällig streifte ich seine Hand, als ich den Teller nahm. Tom sah mich mit einem warmen Blick an und dann ging er um den Tisch herum, bis er hinter mir stehen blieb.

„Seien Sie mir bitte nicht böse, doch Sie haben so schönes Haar, Sie sollten es offen tragen.“

Er löste die Spange aus meinen Haaren und breitete die Wellen über meinen Rücken, bis es ihm gefiel. Ich hielt ganz still, fühlte meine Haut kribbeln und registrierte dennoch, dass er ein Perfektionist war, der sich alles so zurecht machte, bis es seinen Ansprüchen genügte. Bestimmt kein einfacher Zeitgenosse, dachte ich mir.

Trotzdem verlangte ich danach, jeden Millimeter seines Körpers zu berühren und seine Hände auf meiner nackten Haut zu fühlen. Ich durchlebte Fantasien und doch blieb meine Hand erstaunlich ruhig, als ich das Weinglas hob und mit ihm anstieß.

„Auf die Doktorin in Geschichte“, lächelte er und trank. Das Kerzenlicht schimmerte sanft in dem honiggelben Wein und ebenso sanft in seinem kurzen Haar, das den gleichen Farbton hatte und das ich so gerne mit meinen Lippen berührt hätte.

Ich lächelte auch und spottete möglichst unbeschwert: „Sie haben sich nach mir erkundigt?“

„Es hat sich so ergeben. Professor Bauer hält große Stücke auf Sie. Er gibt zu, dass er Sie nur halten konnte, weil Ihre Mutter in der Stadt lebte. Er macht sich Sorgen, dass Sie jetzt an eine berühmtere Universität wechseln werden.“

„Ich weiß noch nicht, was ich machen werde“, erwiderte ich. „Woher kennen Sie Professor Bauer?“

„Er gehört zu der selben großen Familie wie ich“, sprach er und wechselte hastig das Thema: „Ich möchte mich mit diesem Essen für Ihre Gastfreundschaft bedanken. Morgen reise ich ab.“

Es versetzte mir einen Stich, dass er so schnell weiterzog. „Sind Ihre Geschäfte erledigt?“, fragte ich möglichst neutral.

„Ja. Morgen kommen sie zum Abschluss.“

Unser Gespräch verlief in ruhigen, seichten Gewässern, es war ein gemütlicher Abend. Dann klingelte die Hausglocke. Ich erhob mich und betrat den Gang. Plötzlich stand Tom neben mir, er hielt mich zurück.

„Öffnen Sie nicht“, flüsterte er. „Hat das Haus einen Hinterausgang?“

„Natürlich. Durch den Keller.“

„Dann lassen Sie uns verschwinden!“

Ich verstand nicht, doch er nahm mich mit sich. Wir liefen auf die Straße und versteckten uns in einem gegenüberliegenden Hauseingang. Tom beobachtete mein Haus und ich schob mich nahe zu ihm, um auch etwas sehen zu können. Ich lehnte an ihm, fühlte seine Muskeln durch das leinene Hemd, doch ich fühlte noch etwas anderes. Ein harter Gegenstand steckte in seinem Gürtel. Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, bis ich begriff.

„Sie sind bewaffnet!“, fuhr ich ihn entrüstet an.

Er sah mir in die Augen, nur ganz kurz, bevor er wieder die Hinterfront des Hauses beobachtete. „Die anderen sind es auch.“

Jetzt stürmten drei Männer durch die Kellertüre in den Garten meiner Mutter, auf die Straße und blieben stehen. Sie entdeckten uns nicht, machten kehrt und entfernten sich wieder. Tom verließ seinen Posten nicht und ich verharrte neben ihm.

„Wer sind die Männer?“, fragte ich.

„Engländer“, antwortete er wie immer knapp. „Wenn Sie wollen, verschwinde ich, damit ich Sie nicht mehr in Gefahr bringe“, schlug er vor.

„Dann sollten Sie Ihre Sachen holen.“

Wir kehrten vorsichtig in das Haus zurück, die Türe stand offen, doch die Männer waren fort. Ich folgte Tom, als er sein Zimmer betrat. Ein Bild der Verwüstung bot sich uns dar. Es gab kein Möbelstück, das nicht verschoben war, Matratze und Kissen waren aufgeschlitzt und Toms wenige Kleidungsstücke lagen verstreut am Boden. Er begann sie aufzuheben, in seinen Rucksack zu stopfen und wir sprachen kein Wort. Er war fertig, reichte mir die Hand und sagte:

„Es tut mir Leid, was hier geschehen ist. Ich werde jetzt gehen.“

Ich hielt seine Hand fest, Gefühle stürzten auf mich ein.

„Ich will nicht, dass du gehst!“ Woher ich den Mut für diese Worte nahm weiß ich nicht. Lag es am Schock oder am Schmerz über den Verlust meiner Mutter? „Ich will, dass du bei mir bleibst, diese Nacht, bis du morgen gehen musst.“

Und er blieb bei mir. Ich kann mich noch heute an jede seiner Berührungen erinnern, daran, wie wir uns gegenseitig auszogen, langsam und zärtlich. Ich spüre noch seine weiche Haut unter meinen Fingerspitzen und erbebe unter seinen Liebkosungen. Ich hatte zum ersten Mal alle Konventionen gebrochen, nur nach dem Gefühl oder vielleicht dem Instinkt gehandelt und mein Instinkt hatte nicht getrogen.

Wir liebten uns die ganze Nacht, ohne müde zu werden. Er flüsterte mir Worte ins Ohr und ich vergaß mich selbst. Ich stand nicht länger neben mir und beobachtete meine Bewegungen, lauschte auf meine Laute. Ich ließ mich in diesen Strudel fallen, der mich mitriss, ohne an meine Erziehung oder die Meinung anderer zu denken.

Wir wurden eins in dieser Nacht und als er sich am Morgen verabschiedete, blieb immer noch ein Teil von ihm in mir und etwas von mir nahm er mit sich. Ich wusste, dass ich ihn nie wiedersehen würde. Er nannte mir keine Adresse, keine Nummer, unter der ich ihn erreichen konnte. Er sagte nur:

„Es ist besser so, meine Nell.“

Und doch sah ich Schmerz in seinen Augen, als er mich verließ. Als er gegangen war und es nicht mehr sehen konnte,  weinte ich.

Am nächsten Morgen fand ich sein Foto in der Tageszeitung. Ein Fahndungsfoto der Polizei. Er hatte einen Bombenanschlag auf die britische Botschaft verübt. Vier Tote und einundzwanzig Verletzte. In dem Artikel stand, dass sein Name Thomas Dohenny lautete, ein gesuchtes Mitglied der IRA. Es war nicht das erste Attentat, das er verübt hatte und mit Sicherheit auch nicht das Letzte. Er bastelte seine Bomben immer selbst.

Ich dachte an seine schlanken Hände zurück, die Hände eines Künstlers, an seine ruhigen Bewegungen. In der Tat konnte er sich keine unüberlegten, hastigen Gebärden erlauben, sie wären sein Tod. Das Foto ist das einzige Andenken, das mir geblieben ist. Das Einzige, bis auf  die Wärme seines Körpers an meiner Haut, die ich noch heute spüre, wenn ich an ihn denke.
 © Karin Sittenauer 1999




Home