Nicaragua libre



Einen Diavortrag über Nicaragua sollte ich halten. Wie war ich nur in diese Situation geraten? Robert war krank und ich musste für ihn einspringen. Warum ausgerechnet ich?

Seit meiner Reise war so viel Zeit vergangen und ich hatte mich nachher niemals wieder mit diesem kleinen, mittelamerikanischen Land beschäftigt. Mein Wissen war unvollständig, veraltet. Damals hatten die Sandinisten den Diktator Somosa gestürzt und mittlerweile war es die Partei der Sandinistas, die durch Wahlen die Macht an die von den Vereinigten Staaten unterstützen Konservativen verloren.

Die Dias hatte ich nach dem Datum ihrer Aufnahme einsortiert, doch niemals beschriftet, niemals wieder angesehen.

Jetzt saß ich in dem verdunkelten Raum und ließ sie auf mich wirken: Kinder mit dunklen Augen, Männer und Frauen - bewaffnet. Parolen an den Wänden. Kleine Hütten als Wohnhäuser. Mildes Licht auf hellbraunem Boden. Sonnenstrahlen, die den Kontrast von Hell und Dunkel krass betonten. Hellblaue Mauern und schwarze Einschusslöcher.

Wie hieß der Ort doch gleich? Ich drückte auf den Knopf des Diaprojektors, sah fünf Aufnahmen des Gebäudes, einige der Umgebung und doch erinnerte ich mich nicht an den Namen.

Ich saß wieder auf dem weißen Pritschenwagen mit dem roten Kreuz, wurde hin und her geworfen. Die Straße bestand beinahe nur aus Löchern und ich wusste, dass die Guerillas häufig Minen in diesen Schlaglöchern versteckten. Eine Mine und wir müssten sterben.

Meine Rotkreuz-Kollegen fühlten sich verpflichtet, mir als einziger Frau Mut zuzusprechen, doch seltsamerweise verspürte ich nicht die Spur von Angst. Ich war mir mit meinen neunzehn Jahren des drohenden Endes bewusst. Hauptsache es würde schnell gehen, so schnell, dass ich keine Schmerzen empfände. Abgetrennte Gliedmaßen, Fleischwunden oder Knochenbrüche hatte ich vollständig aus meinen Gedanken verdrängt.

Unvermittelt stand ich auf und ging ins Schlafzimmer. Unter dem Bett in einer unscheinbaren Schachtel bewahrte ich die Tagebücher auf. 1979 hatte ich über alle Ereignisse Buch geführt, damit sie nicht vergessen würden. Dort würde ich die Namen finden, die ich für den Vortrag benötigte.

Estelí, ja, so hieß die Stadt auf den Dias. Wieder konnte ich den Geruch von verbranntem Fleisch riechen, fühlte mich verschwitzt und todmüde. Ich hatte mir ein Tuch vor das Gesicht gebunden, doch es milderte den Gestank kaum. Das Rote Kreuz verbrannte die Leichen der Gefallenen, um die Ausbreitung von Seuchen zu verhindern. So kamen Soldaten der Nationalgarde und gefallene Sandinistas am Ende im Feuer zusammen.

Immer wieder peitschten Schüsse durch die Stadt und über all dem hörte ich das Weinen. Ich wollte humanitäre Hilfe leisten, doch jetzt war ich mitten in das revolutionäre Geschehen geraten: Elend, Gewalt, Heldentum. Zuerst hatte es wehgetan, doch nun füllte ein schwerer Stein meinen Brustkorb und verhinderte, dass ich etwas empfand. Als die Nacht den Himmel mit Dunkelheit überzog, bemerkte ich es nicht.

Die Totenfeuer erleuchteten die Straßen. Ihr flackerndes Licht zeichnete unheimliche, sich ständig wandelnde Gestalten auf die Wände. Sehr spät sank ich an einer Mauer zusammen und schloss die Augen. Ich wollte im Schlaf Erholung und kurzzeitiges Vergessen finden. Erst jetzt verspürte ich, wie kühl es war. In der Hauptstadt Managua blieben selbst die Nächte heiß, doch hier in den Bergen fror ich; ein Gefühl, das ich seit Monaten nicht mehr gekannt hatte.

Ich schlang die Arme um meinen Körper, doch das half kaum. Meine Zähne schlugen aufeinander und ich zitterte vor Kälte. So würde ich keinen Schlaf finden; um aufzustehen und meine Kollegen zu suchen, fühlte ich mich jedoch viel zu zerschlagen.

”Ven!” - ”Komm!”, sprach mich eine männliche Stimme an.

Ganz langsam öffnete ich die Augen und schaute auf. Zuerst sah ich die Kalaschnikow, dann braune Arme, die Uniform, das rot-schwarze Halstuch, ein junges Gesicht, vielleicht zwanzig Jahre alt. Immerhin trug er die Uniform eines Rebellen und nicht der Nationalgarde, die ich fürchtete.
Er streckte mir eine Hand entgegen und ich ergriff sie nach kurzem Zögern.

”Hier ist es zu kalt zum Schlafen”, sagte er. “Du kannst mit mir kommen, in ein Haus und dich waschen...”.

Seine Stimme klang beruhigend. Ich stapfte völlig ausgelaugt und ohne eigenen Willen neben ihm her. Nach wenigen Schritten zog er mich wirklich in ein Haus. Es war erstaunlich groß, hatte mehrere Zimmer und einen ersten Stock. Die meisten Häuser bestanden aus lediglich einem einzigen Raum. Gekocht wurde im Freien. Hier aber gab es eine Küche.

Überall auf dem Boden lagen Menschen. Im ersten Augenblick zuckte ich zurück, glaubte, Leichen zu sehen, doch dann bemerkte ich, dass sich ihre Decken im Rhythmus des Atems hoben und senkten.

“Komm”, sagte er erneut und führte mich in den Keller.

Es handelte sich tatsächlich um den ersten Keller, den ich in diesem Land gesehen hatte. Im fahlen Licht der verstaubten Glühbirne entdeckte ich unzählige Waffen und einen Brunnen. Ich befand mich in einem Stützpunkt der Sandinistas! Warum nur führte er mich hierher? Wie kam es, dass er mir vertraute?

“Es ist kalt, doch immerhin können wir uns waschen.”

Ich nickte und nahm das Angebot gerne an. Er ließ mir den Vortritt. Es störte mich nicht einmal, dass er mir zusah. In Kriegszeiten bewertet man alles anders und diese Revolution war ein Krieg.

Danach gingen wir nach oben, stiegen über mehrere Schlafende, erreichten eines der hintersten Zimmer und erst hier lehnte er sein Maschinengewehr an die Wand. Schweigend legten wir uns nieder und deckten uns zu. Seine dunklen Hände umklammerten meinen hellen Körper - wir hielten uns gegenseitig fest.

Endlich hörte ich auf zu zittern, angenehme Wärme ging von seinem ruhigen Körper auf mich über. Wir bewegten uns beide nicht, genossen nur, dass es jemanden gab, der uns in diesen Wirren, in dieser Not, fest hielt.

Am nächsten Morgen drang die Nationalgarde in Estelí ein, belagerte und beschoss dieses hellblaue Haus. Wir konnten noch fliehen, doch nicht alle schafften das. Am Stadtrand trennte er sich von mir, verschwand im Wald, wo es sicherlich einige verborgene Lager gab.

Ich in meiner Rotkreuz-Uniform musste das Militär nicht wirklich fürchten. Schon bald hatte ich meine Kollegen wieder gefunden und mich in die nächste Stadt, zu neuem Elend, aufgemacht.

Ich schaltete den Projektor ab, packte ihn und die Dias zusammen. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich kein einziges Wort zu dem Mann gesprochen hatte. Er aber hatte mir sein Tuch gegeben, schwarz und rot, die Farben der Sandinistas und mit der Aufschrift:

”Patria libre o morir. - Freies Vaterland oder den Tod.”

Immer noch erinnerte ich mich nicht, wie all die anderen Orte auf den Bildern geheißen hatten, doch es war mir nicht länger wichtig. Es gab so vieles zu erzählen, was bedeuteten da Namen?
 

© Karin Sittenauer 2000
 
 

"Unser größter Export ist die Revolution,
nicht Waffen, nicht Soldaten, sondern
das bloße Gerücht, dass Freiheit möglich ist ..."
Daniel Ortega
 

 



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