Rauhnacht
Marianna
beugte sich näher zum Kamin, um die geringe Helligkeit der züngelnden
Flammen besser nutzen zu können. Sie brauchte etwas um ihre düsteren
Gedanken zu vertreiben, selbst wenn es sich nur um die Näharbeit in
ihren Händen handelte. Obwohl der Abend erst anbrach herrschte vor
den Fenstern schon lange tiefe Dunkelheit.
Jetzt aber war gerade erst Weihnachten vergangen und die Nacht verdrängte den Tag so schnell, als hätte die Sonne für immer aufgegeben, sich über die Gipfel der Berge zu erheben. Marianna vermied es aufzublicken und in die finsteren Quadrate der Fenster zu starren. Sie hatte das Gefühl, Gespenster würden herein starren und sie beobachten. Wenn ihr Bruder käme, dann wollte sie ihn bitten, die Fensterläden zu schließen. Sie selbst würde heute keinen Schritt vor das Haus treten. Es war Rauhnacht und sie hatte Angst. Zugegeben eine kindische Furcht, die sich nicht abschütteln ließ, obwohl Marianna sie zu verbergen versuchte. In den Rauhnächten gingen die Geister der Toten um und der Teufel holte sich die Seelen der Lebenden. Auf der Treppe polterte es und Marianna wandte sich von ihrer Arbeit ab. Einen Augenblick zitterten ihre Hände. Eine Gestalt mit einer widerlichen Fratze stieg herab. Sie hatte Hörner auf der Stirn und ein dumpfes, kehliges Lachen tönte über unbewegliche, verzerrte Lippen. „Na, Schwesterchen, wie gefalle ich dir?“ Marianna bemerkte erst jetzt, dass sie den Atem angehalten hatte und musste über ihre eigene Torheit lachen. Matthias blieb vor ihr stehen und sie erwiderte: „Du siehst schrecklich aus, wie der Teufel persönlich.“ „Das wollte ich ja! - Ist es gelungen?“ Er drehte sich vor ihr und sie nickte. „Ja, es ist gelungen. Man erkennt dich wirklich nicht mehr. Wann wirst du gehen?“ Matthias nahm die hölzerne Maske ab und blinzelte ihr schalkhaft zu. „Gleich. Um acht Uhr treffe ich mich mit meinen Freunden, und dann kann es losgehen. Heute ist niemand vor uns sicher!“ „Schließt du bitte noch die Fensterläden, bevor du gehst?“, fragte Marianna leise. Forschend blickte er ihr ins Gesicht, bis sie verlegen die Augen senkte und tat, als würde sie weiter nähen. „Hast du Angst?“, fragte er dann. „Ach Unsinn“, wehrte sie ab, errötete dann aber und gestand: „Ich bleibe nicht gerne alleine zu Hause.“ „He, du brauchst dich wirklich nicht zu fürchten! Meine Freunde und ich werden dort draußen einen solchen Radau veranstalten, dass kein Geist es wagen wird, ins Tal herabzusteigen. Wir verscheuchen sie alle! - Aber ich schließe die Läden, wenn du dich dann wohler fühlst.“ „Danke“, flüsterte sie. Sie blickte ihm nach, als er das Haus verließ und schon hörte sie, wie ein Fensterladen nach dem anderen zugeschlagen wurde. Als Matthias wieder eintrat, schleppte er einen schweren Korb voller Brennholz. „So, jetzt hast du wahrlich keinen Grund mehr, das Haus zu verlassen“, lachte er in seiner unbeschwerten Art. „Ich werde jetzt gehen, oder kann ich noch etwas für dich tun?“ „Nein, nein - ich wünsche dir viel Spaß!“ „Den werde ich haben, da kannst du sicher sein!“ Er wickelte sich in seinen dicken Mantel und griff nach der scheußlichen Maske. „Verriegel die Türe hinter mir, ich klopfe an, wenn ich wiederkomme.“ Mit beschwingten Schritten stürmte er hinaus und Marianna schob den Riegel vor. Dies tat sie normalerweise nie, es war auch nicht nötig in ihrem Heimatdorf. Doch in den Rauhnächten durfte man nicht leichtsinnig sein. Wieder setzte sie sich vor das Feuer und durchbohrte den widerspenstigen Stoff mit der zu kleinen Nadel. Letztes Jahr war ihr Vater noch bei ihr gewesen. Gewiss, er war alt und gebrechlich gewesen, kaum eine Hilfe, doch seine Nähe hatte gut getan und beruhigt. Er fehlte ihr und sie fragte sich, ob auch sein Geist in diesen Nächten ruhelos umher irren musste. Unmöglich - ein gütiger und liebevoller Vater wie er hatte einen Platz im Himmel erhalten, daran zweifelte sie nicht. Ihr Blick wanderte häufig zur Uhr, doch die Zeit kroch dahin, als hätte sie jemand in Fesseln gelegt. Es würde noch ewig dauern, bis Matthias wieder zurück käme. Plötzlich fiel es Marianna ein: Sie hatte vergessen, den Kreis um ihren Platz zu ziehen, den Kreis, der die Dämonen fern hielt! Sie sprang auf, eilte zum Herrgottswinkel und kramte unter den Tannenzweigen die geweihte Kreide hervor. In fliegender Hast zog sie vor dem Kamin ein weißes Band, das sie schließlich zum Kreis schloss. Sie malte Kreuze hinein, so wie ihre Großmutter es sie einst gelehrt hatte. - Hoffentlich war es noch nicht zu spät! Beruhigter setzte sie sich in die Mitte und blickte wieder zur Uhr. Zwölf Uhr, die Stunde der Geister. Sie hatte es noch rechtzeitig geschafft! Ein Fensterladen hatte sich gelockert und klopfte im aufkommenden Wind an die Mauer. Aus dem steten Klopfen wurde Hämmern und sie begriff, dass jemand an der Türe war. Das musste Matthias sein! Sie sprang auf und rief: „Wer ist da?“ „Ich bin es, dein Bruder!“ Geschwind schob sie den Riegel zur Seite und lies Matthias herein. Er hatte noch die Maske am Kopf, doch Marianna erschrak trotzdem nicht mehr. Sie wollte zum Kamin zurückkehren, aber der Mann versperrte ihr den Weg. „Du wirst den magischen Kreis nicht betreten“, sprach er. Seine Stimme hatte sich verändert und dies lag nicht nur an der Maske, die den Mund verdeckte. Etwas stimmte hier nicht. Der Mund bewegte sich beim Sprechen! Das war ein wirkliches Gesicht! „Ich bin gekommen, um dich zu holen.“ Marianna erbebte. Konnte dies der Teufel sein, oder der Tod, oder ein anderer Dämon? Er setzte sich ruhig an den Tisch und starrte sie mit kalten Augen an. Wieder klopfte es an der Türe. „Geh‘ und öffne“, sprach das Wesen. Wie in Trance gehorchte Marianna. Als sie den Ankömmling erkannte, erschrak sie fürchterlich. Ihr Vater trat in das Haus und schob sich zwischen den Mann und Marianna. Waren die Toten lebendig geworden? Wie konnte ihr Vater hier bei ihr sein? „Du wirst sie nicht bekommen, Herrscher des Bösen!“, rief er eindringlich. Der Fremde lachte laut auf, beugte sich ein wenig nach Vorne und hauchte einen langen, hohen Ton über die Lippen. Marianna fühlte, wie eine kalte Klaue aus Angst und Entsetzen sie packte und sie wehrlos zu Boden stürzte. Nebelhaft begriff sie, dass ihr Vater sich über sie beugte und sie hochhob. Er war jetzt wieder kräftig, nicht mehr von der schweren Krankheit gezeichnet. „Hattest du gedacht, du könntest es verhindern?“, rief das Wesen. „Dem Tod kann man nicht entgegentreten. Ich muss meinen Kandidaten nicht ins Gesicht sehen, um sie ins Jenseits zu führen!“ Er lachte - ein leises,
zischendes Geräusch. Dann vernahm Marianna nichts mehr, nur das Anschlagen
des Fensterladens in weiter Ferne.
„He, Marianna, mach endlich auf. Ich erfriere hier!“ Es war Matthias! Stand er wirklich draußen? Vorsichtig öffnete sie und ein Windstoß schob ihn herein. Er trug noch immer die Maske und Marianna wich zurück. Sie wollte in den magischen Kreis fliehen, doch als sie am Kamin ankam, existierte keiner. Das Feuer war herab gebrannt, Finsternis und Kälte herrschten im Raum. „Fehlt dir etwas? Du bist bleich“, fragte der Mann. Sie drehte sich wieder zu ihm, er hatte die Maske abgelegt und sie sah Matthias‘ besorgten Blick auf sich gerichtet. Erleichtert und verwirrt zugleich schüttelte sie den Kopf und stotterte: „Ich ... glaube, ich ... ich habe geschlafen.“ (c) Karin
Sittenauer 1999
Als Rauhnächte bezeichnet man seit Alters her die Nächte zwischen dem 21. Dezember und dem 6. Januar. In späterer Zeit wurde dies ein wenig eingeschränkt und sie begannen erst ab dem 24. Dezember. In diesen dunklen, oft stürmischen Nächten gingen laut Volksglauben die bösen Geister um und wollten Schaden für Haus, Stall und Hof bringen. Deshalb bekleideten sich einige Bewohner der Ortschaften mit Fellen, verdeckten ihr Antlitz mit Masken (Perchten) und vertrieben ihrerseits durch noch lauteren und stärkeren Radau, noch wilderes Aussehen die Geister. Dadurch kehrten die langen Tage wieder zurück und der Frühling konnte schließlich wieder Einzug halten. Obwohl ich mich auf meiner Homepage durchwegs der "Neuen Rechtschreibung" bediente, beließ ich das alte Wort "Rauhnacht" bewusst in der ursprünglichen Schreibweise. Ich sehe es als Eigenname an und weigere mich deshalb, "Raunacht" zu schreiben. Der Begriff Rauhnacht leitet sich von "rauh" oder "rauch" ab, was ursprünglich "behaart" bedeutete. So tragen die Perchtenläufer auch heute noch Felle - sind demnach behaart oder eben "rauh". In späterer Zeit kam zusätzlich der Brauch auf, in den Rauhnächten den Stall und das Wohnhaus mit Weihrauch auszuräuchern. Auf diese Weise versuchte man die bösen Geister, die in diesen
langen Nächten umgingen, fern zu halten. Auch daher wird der Begriff
Rauhnacht abgeleitet. Er hat also wenig mit dem heutigen "rau" (alt: rauh)
zu tun, sondern eher mit behaarten Fellen und Rauch.
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