Schatten


Ibarnis wandte sich langsam ab; er befand sich allein in der Kirche. Er ging den Gang hinunter zur Tür und sah Sirabir auf den Stufen warten. Sonst war niemand zu erblicken. Einen Augenblick überlegte er, ob er in der Kirche bleiben sollte, hielt aber nicht inne. Das Gör ließ sich ohnehin nicht abschütteln, selbst wenn er Wochen hier verbringen und vor Hunger zum Knochengerippe werden würde.

Obwohl, Sirabir hänselte ihn häufig, dass er abspecken sollte. Sie wollte einfach nicht glauben, dass seine etwas kräftige Statur nur aus Muskeln bestand, die er der harten körperlichen Arbeit als Brauereigehilfe verdankte, nicht aus Fett. Ibarnis fühlte Schweißtropfen wie Regen seinen Nacken hinabgleiten und fröstelte gleichzeitig. Nein, um nichts in der Welt würde er noch eine Minute länger in der Kirche verweilen! Erleichtert atmete er die frische Luft, als er ins Freie trat.

„Was willst du?“, fragte er barsch.

Dichtes, kastanienbraunes Haar fiel ihr ungebändigt ins Gesicht. Sirabir sah ihn mit grauen Augen tadelnd an. Um ihre Stupsnase zeigten sich unzählige Sommersprossen. Wie alt mochte sie wohl sein? Zum wiederholten Male dachte er darüber nach. Auf seine Fragen hin bestand das zierliche Mädchen auf einem Alter von sechzehn Jahren, doch das glaubte er nicht. Vierzehn, ja, das konnte eher zutreffen.

„Was machst du so lange in der Kirche?“, fragte sie. „Der Gottesdienst ist längst vorbei und außerdem: seit wann betest du zu dem neuen Gott, den sie Jesus nennen?“

„Der, den sie Jesus nennen, ist Gottes Sohn“, erklärte er ein wenig überheblich.

„Na dann: Was willst du mit einem Gottessohn?“

„Das würdest du nicht verstehen!“

„Wir haben genug richtige Götter und die hat man von diesem Ort vertrieben!“ Er biss sich auf die Unterlippe. Nicht schon wieder dieses Thema, aber Sirabir hielt noch nicht inne. „Siehst du, jetzt haben sie die alten Symbole vom Torbogen entfernt, einfach weggemeißelt, als hätten sie keinen Nutzen mehr! Glattes Mauerwerk, mit Kreuzen bemalt.“ Verächtlich schnaubte sie aus und fuhr empört fort: „Das kann niemals die magische Kraft der alten Runen ersetzen!“

Vielleicht gab sie Ruhe, wenn er nichts darauf erwiderte! Er stieg die Stufen hinab und sie folgte ihm wie ein lästiges kleines Hündchen.

„Rede mit mir! Sei nicht so überheblich. Du bist auch nur vier Jahre älter als ich!“

Am Fuß der abgetretenen Treppe blieb er stehen, musterte Sirabir mit hochgezogenen Brauen. „Vier Jahre? Ich bin zwanzig und du? ... Du bist noch ein Kind.“

Innerlich grinste er, auch wenn sein Gesicht ernst wirkte. Jetzt würde sie auf ihn losgehen und er hätte sie endlich von dem Gotteshaus abgelenkt. Seine eigenen Gedanken aber kehrten dorthin zurück; die Stufen empor, durch die schwere, eichene Türe und den Gang entlang. Was er dort gesehen hatte konnte er sich nicht erklären und gerade deshalb machte es ihm Angst. Diese Schatten!

„Ich bin kein Kind mehr!“, rief sie.

„Nein, natürlich nicht. Mit deinen zehn Jahren gehörst du schon lange zu den Erwachsenen.“

Diese Worte brachten ihm einen Boxhieb in die Magengegend ein. Schauspielerisch presste er seine Hände auf den Bauch und krümmte sich. Seine Augen verdrehte er dabei. Sollte sie nur annehmen, dass ihr Angriff ihn schmerzte! Umso schneller würde sie Ruhe geben. Flink fasste sie mit ihren schmalen Händen in sein schulterlanges Haar und riss daran.

„Aua, bist du verrückt?“, rief er.

Das tat wirklich weh. Er versuchte sich zu befreien und hob sein Gesicht. Augenblicklich verhielt Ibarnis in seinen Bewegungen. Aus der Kirche schob sich eine seltsame Dunkelheit. Verflucht, warum hatte er die Türe nicht geschlossen? Sirabir bemerkte seinen Schrecken, folgte seinem Blick und starrte ebenfalls die Stufen hoch. Ganz langsam ließ sie den jungen Mann los.

„Belenos steh uns bei!“, murmelte sie.

„Du kannst es auch sehen?“ Seine Stimme blieb ebenso leise. Sirabir nickte. Sie schob sich noch näher an ihn und er legte unwillkürlich einen Arm um ihre Schultern. „Ich glaube, ich war der einzige, der sie während des Gottesdienstes bemerkt hat. Alle anderen wirkten so normal, in keinster Weise erschrocken.“

„Vielleicht warst du der einzig Normale dort drinnen?“, vermutete sie. „Die anderen sind zu weit vom alten Glauben entfernt, um die Wesen noch wahrzunehmen.“

Einen Augenblick wandte er sich von den sich ständig wandelnden Schatten ab und musterte Sirabir. Sie wirkte so erwachsen, ihre Stimme, ihre Miene ... so wissend! Hatte er sie falsch eingeschätzt?

„Was weißt du?“, fragte er tonlos.

„Die Magier hatten die Aufgabe, die dunklen Mächte zu bannen. Deshalb wurde hier an diesem heiligen Ort ein Tempel errichtet. Viele Riten waren nötig, um die Gefahr abzuwehren. – Die Weisen wurden vertrieben, der uralte Tempel in eine Kirche umgewandelt und jetzt ...“. Sie schluckte. „Ich habe so was noch nie gesehen, aber ... aber es muss das sein, wovor die alten Symbole schützen sollten!“

„Sind wir in Gefahr?“, fragte Ibarnis.

Ein bedrückendes Gefühl ließ sein Herz schneller schlagen, warnte ihn eingehender, als Erklärungen es vermochten. Trotzdem hoffte er noch auf beschwichtigende Worte.

„Nicht nur wir“, flüsterte Sirabir. Die Wesen blieben nicht länger an der Kirchentüre, jetzt kroch ein Schatten die erste Stufe herab. „Die ganze Welt wird sich verändern, wenn sie sich unter das Volk mischen. Nach den alten Geschichten verbreiten sie Kälte, Habgier, Misstrauen...“

Das reichte Ibarnis. Er hatte die Türe offen gelassen, er war nachlässig gewesen und musste jetzt seinen Fehler wieder gut machen! Im gleichen Moment als er seinen Arm von Sirabir löste stürmte er auch schon nach oben.

„Nein, nicht, Ibarnis! Du kannst sie nicht aufhalten und ein wenig Holz schon gar nicht!“, rief Sirabir fassungslos.

Schon erreichte er gleiche Höhe mit dem ersten der Wesen, wich aus, warf sich mit der Schulter gegen die Türe und schlug diese zu. Ein Gefühl tiefer Erleichterung überkam ihn. Nur ein Schatten befand sich im Freien, nur dieser eine richtete sich vor ihm auf, wuchs zu menschlicher Größe heran und glitt auf ihn zu. Ibarnis zog seinen Dolch und zielte. Eigentlich hätte er treffen müssen, doch sein Hieb ging ins Leere, glitt wie durch Luft. Ibarnis spürte lediglich einen kalten Zug. Dann befand sich das Geschöpf über ihm.

Sirabir schrie und Ibarnis konnte aus den Augenwinkeln beobachten, wie mehr und mehr Finsternis durch das Holz drang. Kälte umhüllte ihn, er taumelte, versuchte sich aufzufangen und stürzte dennoch die Treppe hinab. Es war, als würde man ihn verprügeln. Überall Schmerzen! Einen Moment blieb er stöhnend liegen, dann riss er seinen Kopf herum. Ängstlich richtete er seinen Blick wieder auf die Türe. Sie wurde einen Spalt weit geöffnet. Die hagere Gestalt des Priesters schob sich behände hindurch und lächelte.

© Karin Sittenauer 2000


Endlich fiel die Erstarrung von Sirabir ab. Mit drei schnellen Schritten war sie bei ihrem Freund und beugte sich besorgt über ihn. Er atmete flach und starrte blicklos vor sich hin. Sie schob ihre Arme unter seine Schultern und mit einer Kraft, die man ihr nicht zugetraut hätte, zog sie ihn vom Boden in eine hockende Stellung.

„Ibarnis hörst du mich? Wir müssen weg von hier.“

Ibarnis Blick flackerte und langsam kehrte das Leben in seine Augen zurück. „Wo bin ich?“ Er blinzelte und sah sie unter trägen Lidern verwirrt an.

„Du bist immer noch hier, vor der Kirche.“ Sirabir bemühte sich weiter, ihn auf die Füße zu bringen. „Steh endlich auf. Wir müssen zu Mutter Enadi.“

„W...was ist geschehen?“ Ein Zittern überfiel den jungen Mann, so dass ihm die Zähne aufeinander schlugen. „Mir ist so kalt und alles tut weh.“ Dennoch bewegte er sich nun selbständig und stand mühsam auf.

„Komm.“

Sie legte sich, ohne auf die Frage einzugehen, seinen Arm um den Nacken und führte ihn von den Stufen weg. Aus den Augenwinkeln hatte sie bemerkt, dass der Priester des neuen Gottes schon bis auf drei Armlängen an sie herangekommen war. Sie verspürte keine Lust, seine dummen Fragen zu beantworten. Natürlich hatte er nicht gesehen, was zu sehen gewesen war. Und sie hatte Angst um Ibarnis.

War er von dem Dämon in Besitz genommen worden? Würde dieser ihn töten? Oder wozu würde er ihn gebrauchen? Nur eine Person konnte die Fragen beantworten und dafür mussten sie in den Wald hinaus. Dort lebte in einer Höhle Mutter Enadi, eine der wenigen weisen alten Frauen, die nach dem Frankenkrieg noch übrig geblieben waren.

Eine Stunde später lag Ibarnis eingepackt in warme Felle in Enadis Höhle. Die Magierin hatte sie bereits erwartet und dem jungen Mann sofort einen heißen Kräutertrunk eingeflößt. Nun saß sie leise murmelnd vor dem Eingang, vertieft in ein Gespräch mit ihren Geistern.
Sirabir lehnte sich erschöpft an die Felswand und streckte die Beine von sich. Sie hatte Ibarnis hierher gebracht und nun kümmerte sich die Magierin um ihn. Alles würde wieder gut werden!

Langsam fielen ihr die Augen zu.  Sie sank in Schlaf und träumte von der Zeit, in der sie und Ibarnis noch Kinder gewesen und zusammen mit den anderen Kindern spielend durchs Dorf getobt waren. Sie sah sich mit den alten Freunden lachend über den hinteren Dorfanger springen, vorbei an einem schlaksigen, dünnen Burschen, der wie ein übergroßer Storch durch die Wiese stakste - Ibarnis, den sie so gern verspotteten. Auf einmal fiel ein Schatten auf das freundliche Bild. Sirabir fuhr erschrocken hoch und riss die Augen auf.

Sie blickte sich in der Höhle um und wandte zuletzt den Kopf zum Eingang. Enadi war verschwunden. Sie hörte einen leichten Flügelschlag und sah zur Höhlendecke hinauf. Dort flatterte eine schwarze Fledermaus mit ungewöhnlich gelben Augen. Plötzlich stieß das Tier auf den schlafenden Ibarnis herab und biss ihn in den Hals. Mit ausgebreiteten, vibrierenden Schwingen hockte es eine Weile über ihm, erhob sich dann raschelnd und flog zielgerichtet zur Höhle hinaus.

Gebannt hatte Sirabir dem Schauspiel zugesehen, musste sich zwingen, nicht aufzuspringen und das Tier zu verscheuchen. Sie befand sich in der Höhle einer Magierin und wusste, dass sie sich nicht einmischen durfte. Sirabir war nicht überrascht, kurz darauf Enadis Stimme zu vernehmen.

„Bist du bereit?“

„Ja Mutter.“

Das Mädchen nickte zur Bekräftigung und verfolgte interessiert die Magierin, die mit einem gläsernen Pokal in der Hand ihre Höhle betrat. Leise Beschwörungen murmelnd trug sie das Gefäß, in dem eine blutrote Flüssigkeit schwappte, zu einem grob gezimmerten Holztisch. Hier gab sie getrocknete Kräuter und verschiedene Essenzen in den Pokal und beschrieb unter weiteren Beschwörungen mit ihren Händen komplizierte Figuren in der Luft.

„Willst du es dir noch einmal überlegen?“

Erschrocken fuhr das Mädchen zusammen. Die Alte stand unverhofft vor ihr und musterte sie mit unnatürlich großen Augen. Obwohl sie schon sehr alt sein musste, denn sie kannte Dinge, die sich vor langer Zeit in der Nordmark ereignet hatten, war ihr Gesicht fast faltenfrei und noch nicht so verwittert wie das der anderen alten Menschen im Dorf.

„Nein, nein.“ Müde rappelte sich Sirabir hoch. „Ich muss es tun.“ Sie blickte besorgt zu dem schlafenden Ibarnis.

„Hol mir das Silberfläschchen dort drüben.“

Die Magierin deutete auf ein aus Weidenzweigen geflochtenes Regal an der Höhlenwand. Sirabir tat wie geheißen. Enadi öffnete die kleine Flasche und füllte ein feinkörniges Pulver hinein. Anschließend verschloss sie den Flakon und hängte ihn, an einer Silberkette befestigt, um Sirabirs Hals.

„Noch einmal“, die Magierin musterte das Mädchen eindringlich an, „geh sparsam damit um. Du wirst es eine lange Zeit gebrauchen müssen.“

Als Sirabir aufblickte war die alte Frau verschwunden. So wandte sie sich zu dem Fellbündel und rüttelte den schlafenden Mann wach.

„Wie fühlst du dich?“

Ibarnis schüttelte benommen den Kopf. Ihm waren die letzten Stunden wie ein böser Traum vorgekommen. Er sah sich in der Höhle um und zu dem Mädchen hin, das vor ihm kniete.

„Ist es ...? Was hat sie gesagt?“

Sirabir legte warnend den Zeigefinger auf seine Lippen und schüttelte den Kopf.

„Komm“, sagte sie laut und stemmte sich mit aller Kraft gegen ihn und half ihm auf die Beine. „Wir sollten machen, dass wir vor der Dunkelheit wieder im Dorf sind. Heute Nacht ist es nicht gut, draußen zu sein.“

Mit schwankenden Schritten taumelte Ibarnis zur Höhle hinaus und wandte sich Richtung Dorf. Sirabir ging neben ihm her und stützte ihn. Sie sprachen kaum ein Wort. Enadi hatte sie gewarnt, dass sie damit den Dämon herausfordern würden. Die alte Frau hatte sich inzwischen aufgemacht, die anderen Magier zusammen zu trommeln, damit sie mit vereinten Kräften gegen die dunklen Mächte ankämpfen konnten. Dem Mädchen jedoch war die Aufgabe zugefallen, sich um die Dorfbewohner zu kümmern.

Plötzlich ging ein Ruck durch Ibarnis Körper und er straffte sich, blieb abrupt stehen und drehte Sirabir sein Gesicht zu. Kalte Augen fixierten sie mit einem durchdringenden Blick.

„Gib mir zu essen, ich bin hungrig.“

Das Mädchen unterdrückte ihren Schrecken und tastete nach dem Proviantbeutel, den die alte Frau vorsorglich für sie gepackt hatte.

„Hier.“ Sie reichte ihm Brot und Käse.

Widerwillig verzog er das Gesicht. „Was für ein Fraß. Bring mir Wein und Fleisch!“

Spöttisch verzog Sirabir ihren Mund. „Mitten im Wald gibt’s keine Schänke. Wenn du mehr willst, musst du warten, bis wir im Dorf sind.“

Sie wollte sich abwenden und weitergehen, doch Ibarnis packte ihr Handgelenk und hielt es in eisernem Griff gefangen. „Fühl dich nicht zu sicher, kleine Hexe. Ich weiß, dass Enadi, das alte Biest, dich mit einem Schutzzauber belegt hat, aber glaube mir, ich bin stärker als sie und sie kennt noch lange nicht all meine Tricks.“

„Nein.“ Sirabir versuchte sich loszumachen. „Ich werde mich nicht in falscher Sicherheit wiegen. Und du bist ein Großmaul.“

Mit einem heiseren Lachen zog er sie, die er immer noch festhielt, nahe zu sich heran. Seine Augen glitzerten vor Spott während er sie eingehend betrachtete.

„Na schön Jungfer Siebenklug. Machen wir uns auf den Weg.“ Er bleckte die Zähne zu einem bösartigen Grinsen, ließ abrupt ihr Handgelenk los und marschierte davon.

Sirabir, die in einigem Abstand folgte, konnte sehen, wie nach wenigen Schritten die Schultern des Mannes vor ihr nach unten sackten und er wieder in der müde Haltung verfiel, mit der er anfangs marschiert war. Sie beeilte sich, ihn einzuholen. Kaum hatte sie ihn erreicht, fing er an zu schwanken.

„Ibarnis?“

Er wandte sich zur Seite und sah sie mit einem leeren Blick an.

„Kannst du noch gehen?“

Kaum merklich schüttelte er den Kopf. Dann stützte er sich an dem breiten Stamm einer Buche ab und rutschte langsam daran herunter.

„Ich bin so müde“, murmelte er kaum hörbar. „... schlafen.“

Sirabir packte ihn, bevor er den Boden berührte und fluchte innerlich. Wie Recht sie doch mit dem Abspecken hatte. Nun durfte sie diesen Bär von einem Mann alle paar Stunden unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte vom Boden auflesen.

Endlich stand Ibarnis wieder, wenn auch unsicher, auf seinen Füßen und ließ sich von dem Mädchen willig weiter führen. Kurz vor Sonnenuntergang erreichten sie das Dorf und Sirabir begleitete den Freund zu der Hütte, in der mit seinen Eltern wohnte. Mit einem Blick erfasste sie, dass den beiden offenbar nichts widerfahren war.

„Ihm ist heute Morgen ein Unfall passiert“, erklärte sie den alten Leuten, die besorgt ihren Sohn in Empfang nahmen, knapp. „Wir waren bei Mutter Enadi und sie sagte, es werde ihm ein paar Tage schlecht gehen, aber dann sei alles wieder vorbei.“

Wenn es doch nur wahr wäre, dachte Sirabir bedrückt und huschte schnell hinaus, bevor man ihr noch weitere Fragen stellen konnte.
In derselben Nacht schlich sie sich mit klopfendem Herzen wieder zu Ibarnis Wohnstatt zurück und bemalte mit dem Pulver aus ihrem Silberfläschchen die Außenwand mit dämonenabwehrenden Runen.

Am nächsten Morgen schaute Sirabir in alle Hütten und sprach mit allen Dorfbewohnern. Niemand sonst schien solche Veränderungen zu zeigen wie Ibarnis. Doch bevor der Tag zu Ende ging tobte der Schmied durch die engen Gassen und zertrümmerte mit seinem großen, eisernen Hammer alles, was ihm dabei im Weg lag. Auf einmal blieb er starr stehen und stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden. Gaffend und grinsend umstanden die Dorfbewohner den ohnmächtigen Mann. Schließlich hoben sie ihn auf und trugen ihn in seine Hütte. In der Nacht schlich Sirabir um die Schmiede und bemalte sie mit geheimnisvollen Runen.

Einen Tag später hörte man Schläge und Schreie aus der Mühle am Dorfteich. Aus Angst, ein verhexter Müller könne die kostbaren Holzräder zerschlagen und ihnen damit nicht mehr ihr Getreide mahlen, rannten die Bauern zum Müllerhaus und kamen gerade noch rechtzeitig, um dem rundlichen kleinen Mann in der Arm zu fallen, der mit einer Axt und wildem Geschrei durch das Gestänge kletterte. Beim Eintreffen der Männer erstarrte er und fiel mitsamt seiner Axt bewusstlos auf den harten Boden herunter. Auch sein Haus wurde in der Nacht darauf mit den zauberkräftigen Runen geschmückt.

Am selben Tag noch zündete eine alte Frau, die am anderen Ende des Dorfes in einem ehemaligen Ziegenstall lebte, das Dach über ihrem Kopf an und starb in den Flammen.


Von nun an wurden es täglich mehr Leute im Dorf, die schreiend und um sich schlagend aus ihren Häusern rannten oder sich darin durch Messerstiche, Knüppel oder Feuer umbrachten.

Sirabir, die vor lauter Elend und Schlaflosigkeit ganz dünn geworden war und mit vom Weinen geröteten Augen umher lief, versorgte jede Nacht diejenigen Hütten mit Zauberzeichen, in denen die besessenen Menschen überlebt hatten.

Endlich kam der Tag, an dem sich kein Dorfbewohner außer ihr mehr auf den Beinen befand. Stille senkte sich über die Gegend. Sie war so vollkommen, dass man noch nicht einmal den Laut eines Vogels oder eines Tieres auf den Feldern hörte. Die Menschen jedoch, die in ihren durch Zauberkraft geschützten Häusern in tiefer Ohnmacht lagen, waren gefeit gegen die dämonischen Mächte.

In ihrer vor Schmutz starrenden, zerrissenen Kleidung umrundete Sirabir müden Schrittes das Dorf. Bald würde Enadi mit den Magierinnen kommen und die Dämonen hoffentlich wieder dorthin zurückbannen, wo sie schon seit undenkbar langen Zeiten gehaust hatten, ehe die unbesonnenen Franken ihnen wieder Tür und Tor öffneten.

Plötzlich zuckte sie erschrocken zusammen. Mit einem lauten Knarren ging die Kirchentür auf und der schwarzgekleidete Priester des neuen Gottes trat heraus.

Der Priester - durchfuhr es Sirabir heiß. Den hatte sie völlig vergessen! Seit dem Tag, an dem Ibarnis von dem Dämon befallen wurde, hatte sie ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Was war mit ihm geschehen? Hatte er bei seinem Gottessohn Schutz gesucht oder sich versteckt?

Gebannt blieb sie stehen und ließ die schwarze Gestalt näher kommen. Er sah sauber aus und gut genährt, zeigte keine Anzeichen von Wahnsinn und hatte dieses süffisante Lächeln im Gesicht, das sie an jenem Sonntag Morgen so gestört hatte. Als er auf Armeslänge herangekommen war, verbreiterte sich dieses Lächeln in seinem Gesicht und zeigte nun deutliche Züge von Spott.

„Nun Jungfer Siebenklug“, sagte eine bekannte Stimme. „Endlich habe ich einen brauchbaren Wirt gefunden. Was ist das doch für ein Unterschied zu all den tumben Bauerntölpeln. Und er hat sogar Verbindung zur großen Welt da draußen. Durch ihn werde ich endlich meine Ziele verwirklichen können. Und ich werde mich an denen rächen, die mich Jahrhunderte lang gefangen hielten.“

In seinen Augen glitzerte der kalte Hass. Sirabir nahm allen Mut zusammen und hielt seinem Blick stand. Trotzig schob sie das Kinn vor.

„Großmaul“, zischte sie.

Da streckte er die Hände nach ihr aus als wolle er sie umarmen und lachte schallend. „Ach kleines Hexchen, du bist mir richtig ans Herz gewachsen. Hast dich wacker gehalten hier.“ Er deutete mit einer ausholenden Bewegung auf das schlafende Dorf.

„Ich bin untröstlich dich zu verlassen.“ Jetzt wurde seine Stimme kalt und klirrend. „Aber ich komme ja wieder. Ich habe in dieser Kreatur hier die vollkommene Verkleidung entdeckt.“

Er drehte sich um sich selbst wie eine eitle Frau vor ihrem Spiegel und strich sich mit des Priesters süffisantem Lächeln über des Priesters zarte Glieder.

„Wer wird schon jemanden verdächtigen, der für das Seelenheil der Menschen zu sorgen hat und über ihre guten und bösen Taten richtet?“

Hohngelächter erfüllte den Kirchplatz. Noch einmal sah er Sirabir mit einem glühenden Blick in die Augen. Dann wandte er sich ab und rief ihr zum Abschied über die Schulter zu: “Feuer werden brennen. Menschen werden brennen. Bald. Bald gehört die Welt mir allein.“

Bewegungslos starrte Sirabir ihm nach, als er die Straße entlang marschierte, bis der Dunst des neuen Morgens ihn vor ihren Blicken verschlang.

© Chris Schlegel 2000



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