Der Wald Tornior



Frau Crida fuhr fort:
"Ja, der Wald ist dicht. Die wenigen Wege, die hineinführen, enden bald, denn sie werden nur von Holzfällern benutzt, die am Abend wieder in die Dörfer kommen
 
 

"Wohin sollen wir sie bringen? Ich kann nichts erkennen. Ich kann kaum atmen in dieser stickigen Luft", sagte Herdon. 
Daroc redete leise: "Lasst uns einen Moment rasten, ich bin so müde. Danach wird es heller sein, bald schon ist es Morgen."
Enis war entsetzt. Ross und Herdon stimmten zu und er hörte bereits, wie sich alle drei auf dem Boden ausstreckten.
"Ihr könnt doch hier nicht schlafen!"
"Bin so müde...", murmelten sie und schon hörte Enis den ruhigen Atem des Schlafes.
Enis schüttelte zuerst Daroc, dieser bewegte sich nicht. Nun ja, er schlief immer tief. So wandte er sich an Ross, danach an Herdon, doch auch diese konnte er nicht wach bekommen - sie schienen wie betäubt. Verzweifelt setzte sich Enis wieder. Er nahm Cairen in die Arme, strich ihr über das Haar. Noch lebte sie, ihr Atem ging ruhig aber schwach. Er konnte ihr nicht helfen und den anderen auch nicht! Sie lagen neben ihm und schliefen. 
Wer auch immer in diesem finsteren, stummen Wald lebte, hatte eine leichte Beute an ihnen. Es musste diese Luft sein, die sie eingeschläfert hatte. Sie war stickig und warm, das spürte Enis wohl, doch bei sich selbst bemerkte er keine Wirkung mehr. Er wusste, dass ihm der unfreiwillige Schlaf, in den er bei seiner Wache gefallen war, genügend Kraft für den nächsten Tag gab. Oh, wäre er nur niemals eingeschlafen!
Enis saß da, es schien ihm eine Ewigkeit und Angst schlich sich in sein Herz. Dieses Warten ohne etwas zu sehen oder zu hören, trieb ihn zur Verzweiflung. Cairen brauchte rasche Hilfe und er konnte nichts tun! Er wusste nicht einmal, wo er sich befand. Er spürte abgestorbene Nadeln und warmen, trockenen Waldboden unter sich, doch der würzige Geruch fehlte. Es gab keinen stummen, geruchlosen Wald! Wenn er doch nur etwas sehen könnte!
Er streichelte wieder liebevoll über Cairens Haare und dachte wehmütig an den Tag zurück, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Er erinnerte sich an jede Kleinigkeit ihrer Kleidung, er wusste genau, an welcher Stelle sie gestanden hatte, als sie ihn mit dem Schwert bedrohte. Er spürte wieder ihren Körper an seinem, als sie ihn umarmt hatte. Nun dachte er auch wieder an den Ring, den Cairen am Mittelfinger der linken Hand trug. Hatte sie nicht gesagt, dies wäre ein Elfenring, der angeblich Licht machen konnte? 
Schon fuhr Enis Cairens linken Arm hinab bis er in der Dunkelheit ihre Hand ertastete. Sofort spürte er das Schmuckstück an ihrem Finger und zog es vorsichtig herab. Als er ihn nun über den Finger schob, schmiegte sich der Ring an und begann im selben Moment hell zu leuchten. Strahlendes Licht von dem leuchtenden Kristall erhellte die Umgebung.
Enis sah nun einen uralten, mächtigen Wald. Jahrtausende mochten diese Bäume zählen. Eine Brise frischer, würziger Luft wehte ihm plötzlich ins Gesicht. Da hörte er das Wispern der Blätter weit über sich, den Flügelschlag eines Kauzes und das Tappen von Tierfüßen über dem Boden. In der Ferne sah Enis eine Gruppe von Pferden, die in aller Ruhe auf dem Boden nach etwas Essbarem suchten. Ihre Pferde hatten also ebenso wie sie selbst die Flucht ergriffen. 
Die Bäume erzählten Geschichten, die Enis nicht verstand, die er nur fühlen konnte und eine seltsame Ruhe durchströmte ihn. Nun erkannte er, dies war der Gesang des Waldes, nur zu hören für jene, die bereit waren zu lauschen, wo scheinbar alles schwieg, die ihre Augen öffneten um zu sehen, wo unendliche Finsternis sie zu umgeben schien. Wunderbar war es und immer mehr Töne vermochte er zu unterscheiden. Eine Fähe bellte, eine Fledermaus schnappte nach Faltern, Mäuse wühlten in der Erde und über alledem tuschelten die Blätter und sangen ihr Lied aus alten, vergangenen Zeiten. 
Ein neuer Ton mischte sich in die Symphonie, ein leises Summen aus vielen Kehlen. Es wurde lauter, kam näher und Enis hörte eine Sprache, die er nicht verstand und die ihm trotzdem irgendwie vertraut schien. Er wusste, dass sie vom Leben, von der Verbindung aller Geschöpfe und vom Frieden in der Einheit der Natur sangen, obwohl ihm dies nur sein Gefühl sagte, nicht sein Verstand, dem alles hier unbekannt war.
Nun sah Enis viele Lichter, die dem seinigen glichen. Menschenähnliche Wesen kamen auf ihn zu, die keine Menschen waren. Sie hatten einen leichten, beinahe schwebenden, lautlosen Gang und sangen mit reinen Stimmen. Sie waren in fließende Gewänder gehüllt, meist in einem hellen Grün. Doch auch Blau und Violett konnte er sehen. Die Farben wirkten reiner als diejenigen in Enis' Heimat. In der Mitte der Wesen schritten ein alter Mann und eine Frau, die in strahlendes, blendendes Weiß gehüllt waren.
Enis wusste nicht wen er vor sich hatte, doch er wusste, dass er zu ihnen gehörte. Er erinnerte sich an Dinge aus vergangenen Zeiten, als alle Wesen in Frieden und Harmonie gelebt hatten. Er erkannte die Lieder und die alte Sprache der Berge, Flüsse und Täler schien ihm vertraut. Das erste Mal in seinem Leben fühlte er sich zu Hause, hier waren seine Wurzeln.
Unbeweglich saß er dort und beobachtete, wie sie immer näher kamen. Er hatte keine Angst, schweigend erwartete er sie. Dann standen sie vor ihm, nahmen ihm Cairen aus den Armen, trugen sie und auch die anderen Freunde weg. Die weiß gekleidete Frau nahm Enis bei beiden Händen, er erhob sich und ging mit ihr. Wie in Trance sang er mit ihnen ihre Lieder, die nun auch seine waren. Es war ungewiss, wohin sie schritten, doch Enis vertraute ihnen.
 
 

 

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