Warum weinst du bloß?
"Einen Whiskey!", verlangte ich
erneut.
Der Barkeeper sah mich einen Moment lang stumm an, dann goss er ein und schob ihn über den Tresen. Ja, ich hatte zu viel getrunken, doch es war mir gleichgültig. Ich hatte mein Konzert abgesagt und war stattdessen hierher gekommen, in diese kleine Bar, die nicht einmal eine Bühne hatte, spielte auf meiner Gitarre, obwohl ich nicht dafür bezahlt wurde. Ich spülte den Frust hinunter, den ich empfand, seitdem ich im Autoradio die Nachrichten gehört hatte. Ich steckte meine Nase in das Glas, schloss die Augen und atmete tief ein. Der Geruch von Torffeuer und Alkohol der Geruch von Irland, von Arbeitslosigkeit und Armut. Das passte zu meiner Stimmung. Jemand schob sich an mir vorbei. Ich öffnete die Augen wieder, starrte aber weiterhin in das Glas. Auf den Barhocker neben mich setzte sich ein Mann. Sein Mantel sah noch schäbiger aus als meiner. Alt und unmodern. "Whiskey!", bestellte auch er. "Bob", begrüßte ihn der Barkeeper, als er ihm sein Glas zuschob. Kein weiteres Wort, er verstand, dass wir nicht sprechen wollten. "Spiel mir ein Lied", sagte der Mann. Ich legte meine Hände auf die Saiten und begann zu spielen - für Lara. Traurig und süß. Bob lauschte. Zwischen zwei Songs sprach er: "Wir haben uns lange nicht gesehen." "Zu lange, Bob." "Nein, nicht zu lange. Nur so lange wie du brauchtest, um Abstand zu gewinnen." "Abstand gewinne ich nie." Wieder begann ich ein Lied. Ich war Teil der Musik und die Musik Teil von mir. Innerlich verwundet flüchtete ich mich in die Melodie. Für eine Weile wollte ich vergessen was um mich herum geschah. Es gelang mir nicht. Ich hielt inne und sah Bob an. "Ich hätte es nicht tun sollen." Er lächelte sanft. "Wer von uns weiß je, ob die eigenen Taten die richtigen waren?" "Er hat es wieder getan." Bob nickte. Leise fuhr ich fort: "Du wolltest es verhindern." "Vielleicht. Vielleicht wollte ich auch nur meine Rache haben, ein kleines Stück Genugtuung." Sein trauriges Gesicht war mehr von Gram überschattet, als ich je gesehen hatte. "Ich dachte, du solltest dein Leben nicht auch noch zerstören. Ich habe mich geirrt. Er hat es zerstört." "Whiskey", bestellte Bob. "Mir auch einen", sagte ich und schob mein leeres Glas von mir. "Kein guter Tag heute?", fragte der Barkeeper. Bob schüttelte den Kopf. Wir kippten den Malt hinunter. Es brannte wie Feuer in meiner Kehle. Vielleicht würde es den Schmerz weg brennen. Ich starrte auf die kleinen Kinderschuhe, die seit fünf Jahren an meiner Gitarre hingen. Sie waren von Bobs Tochter. Lara. Damals hatte er sie mir gegeben, damit ich sie nicht vergesse. Ich könnte sie ohnehin niemals aus meiner Erinnerung verbannen. "Wenn wir Lara nur gefunden hätten, bevor er sie töten konnte", murmelte ich. Bob schwieg. Trotzdem wusste ich, dass er zurückdachte. An die verzweifelte Suche bei Freunden, Verwandten, im Wald und daran, wie wir mit einem Boot den Fluss abgefahren waren. Vergeblich. Die Steckbriefe, die wir von seiner Tochter angefertigt und überall verteilt hatten, in Zeitungen veröffentlicht und über das Internet. Keine Hinweise. Niemand hatte sie gesehen. Ich weinte. Wieder begann ich zu spielen. Ich war Musiker, nur darin fand ich Trost, konnte meine Gefühle ausdrücken, ihnen freie Bahn gewähren. Heute jedoch nicht. Zwei Monate später hatte man Lara gefunden. Ich hatte die Leiche nicht gesehen, doch in der Zeitung gelesen, dass sie bereits verweste ... und dass der Täter gefasst wurde. Er war geständig, beschrieb was er ihr angetan hatte: ins Auto gezerrt, in die Wohnung verschleppt, misshandelt, vergewaltigt und erwürgt. Tagelang ließ er sie in der Wohnung liegen und dann vergrub er sie im Wald. "Sie war erst sechs", flüsterte Bob. "Das Mädchen heute in den Nachrichten war sieben." "Wie konnten sie ihn nur alleine auf die Menschen loslassen? Freigang nennen sie es." "Wenn ich dich vor fünf Jahren nicht zurückgehalten hätte, wenn du ihn im Gericht erstochen hättest, dann wäre sie noch am Leben." "Hör mit dem wenn auf. Wir wissen nicht, was geschehen wäre. Vielleicht hätte ich ihn nur verletzt und er hätte überlebt. Dann wäre alles genauso, wie es heute ist. Wir können die Welt nicht verändern." Ich bestellte zwei Whiskey. "Jeder von uns kann mit seinem Leben dazu beitragen, dass die Welt ein kleines Stück besser wird!", sprach ich pathetisch. Wieder lächelte Bob dieses traurige Lächeln. Dann umarmte er mich. "Auf unsere Freundschaft und auf die Kinder." "Da wurde erfüllt, was gesagt ist durch den Propheten Jeremia, der da spricht: In Rama hat man ein Geschrei gehört, viel Weinen und Wehklagen; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen.", flüsterte ich. Wir tranken in Einsamkeit, aber wir tranken nicht mehr alleine.
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