Wehrlos
Er saß am Ufer
des Badesees und starrte auf das Mädchen. Es weinte jetzt nicht mehr,
wimmerte nur leise vor sich hin. Das war gut so, denn das Geschrei war
ihm auf die Nerven gegangen. Zuerst hatte er ihr den Mund zugehalten, doch
sie hatte ihn in die Hand gebissen. So ließ er sie los; sollte sie
doch schreien. Hier wohnte keine Menschenseele, niemand konnte sie hören.
Immer noch blickte er auf das Kind und sah, wie es zitterte. Er erhob sich langsam und steif, wollte eine Decke aus dem Auto holen, um das Mädchen zuzudecken. Die Herbstabende wurden bereits empfindlich kalt und das Kind lag nackt auf dem feuchten Boden. Mit weit aufgerissenen Augen folgte sie jeder seiner Bewegungen und ihr Wimmern wurde lauter, verzweifelter. Da hielt er inne, zögerte. Er durfte sie nicht zudecken, man würde ihre Haare an der Decke finden und das konnte er sich nicht erlauben. Der kleine, nackte Körper zitterte und er fühlte etwas wie Zuneigung. Er hätte die Kleine lieb gewinnen können. Er würde sie mit nach Hause nehmen und sie immer wieder lieben - immer wieder. Seine Stirn zerfurchte sich, er dachte an seine Frau, seine Tochter. Nein, er konnte das fremde Mädchen nicht mitnehmen, so sehr er sich das wünschte. So sorgsam hatte er darauf geachtet, keine Spuren zu hinterlassen, um nicht überführt zu werden. Seit Monaten verfolgte er die Nachrichten, las in Zeitungen Berichte über Kindesmisshandlung und über die Möglichkeiten, die der Polizei blieben, um die Täter dingfest zu machen. Er wusste genau, worauf er achten musste. Es gab keine Spuren, die auf ihn hindeuteten, er würde nicht bestraft werden. Er hatte keinen genetischen Fingerabdruck hinterlassen, niemand hatte ihn oder sein Auto gesehen und niemand hatte bemerkt, dass er dem Mädchen seit Wochen folgte. Niemand, außer dem Mädchen selbst. Sie glotzte ihn an mit diesen niedlichen blauen Augen, die mit einem Mal befremdlich wirkten, bedrohlich. Jetzt sah er kein Kind mehr, sondern eine Zeugin. Ihre Aussage würde ihn ins Gefängnis bringen, seine Familie der Schande aussetzen. Doch welche Schande? Er fühlte zum ersten Mal seit langem, dass er ein Mann war, ein richtiger Mann. Spöttisch grinsend dachte er an seine Frau, an ihre spitzen Bemerkungen, er wäre impotent. Warum sollte es an ihm liegen, wenn er mit ihr nicht mehr schlafen konnte? Heute hatte er bewiesen, dass bei ihm alles funktionierte, alles in Ordnung war. Er spürte wieder den kleinen Körper unter sich, das Zittern und Entsetzen. Das Mädchen hatte sich nicht wehren können. Sie hatte sich aus seiner Umklammerung nicht zu lösen vermocht, sie war nicht stark genug. Ihre schmerzhaften Schreie waren ungehört zwischen den Bäumen verhallt und ihre panische Angst hatte niemand berührt. Ob sie wusste, dass sie sterben würde? Langsam verglomm das Abendrot und Nebel zog über die Wasserfläche des Sees. Es wurde düster, beinahe unheimlich. Er musste sich auf den Weg nach Hause machen, damit seine Frau nichts bemerkte. Ihm blieb keine Zeit mehr, das Kind zu betrachten. Er trat zu dem Mädchen, beugte sich über sie und verschnürte ihr Arme und Beine, als handelte es sich um einen Sack. Dann hob er sie hoch, ihr Weinen schwoll wieder an, wurde laut und klang störend und unschön in seinen Ohren. Er holte weit aus und warf sie in den See, völlig ohne Gefühle, ohne Reue. Mit lautem Platschen kam sie auf der Wasseroberfläche auf und versank schließlich vor seinen Augen - weggeworfen wie Müll, der nicht mehr gebraucht wurde. Nichts unterbrach nun die Stille des Abends und er atmete erleichtert ein, genoß die Frische der reinen Luft. Er wusste, dass er soeben einen Mord begangen hatte, einen Kindesmord, doch er fühlte immer noch keine Reue. Das Einzige, das er spürte, war die Genugtuung, dass er keine Spuren hinterließ und dass ihn niemals jemand überführen würde. Keine Entdeckung und keine Strafe - diese Erkenntnis spukte in seinem Gehirn, nichts anderes. Schließlich wandte er sich ab und stieg in sein Auto. Beinahe zart drehte er den Schlüssel im Zündloch und gab besonnen Gas. Er scheute sich nicht, das Licht anzuschalten, je natürlicher er sich benahm, desto weniger würde man auf ihn achten. Vorsichtig fuhr er den holperigen Waldweg entlang, bis er die Straße erreichte. Es war nicht weit bis zur Autobahn und als er die Auffahrt erreichte und kurz darauf anonym über die breite Straße raste, fühlte er sich wohl wie nie zuvor. Erneut dachte er an seine Frau und wieder trat dieses spöttische Grinsen in sein Gesicht. Heute würde er sie nehmen, hart und gewaltsam. Dann würde sie schon sehen, ob er impotent war. Andererseits - wollte er sie überhaupt noch? Nach dem vergangenen Erlebnis, dem frischen, unverbrauchten Fleisch? Seine Gedanken wanderten weiter; zu seiner Tochter, dem widerlichen Biest, das ihn verspottete, weil er als Straßenkehrer arbeitete. Er stellte sich ihre überheblichen Augen vor, wenn sie sich vor Angst weiteten und ein befriedigendes Gefühl machte sich in ihm breit. Nächsten Abend ging seine Frau aus. Seine Tochter und er blieben alleine, vollkommen alleine... Er fühlte sich großartig, mächtig und stark. Er bemerkte nicht den Menschen, der auf der Autobahnbrücke stand und auch nicht den Ziegelstein, den dieser fallen ließ. Und hätte er es gesehen, er hätte nichts mehr ändern können. Er hörte den Aufprall und registrierte, wie die Frontscheibe zersplitterte und ihm die großen Sprünge in der Scheibe die Sicht raubten. Schnell verlor er die Kontrolle über das Fahrzeug und raste von der Straße. Er prallte gegen einen großen Baum; der Sicherheitsgurt verhinderte, dass er aus dem Wagen geschleudert wurde. Dann herrschte Stille um ihn herum, die selbe Ruhe wie an dem See, in den er das Mädchen geworfen hatte. Er versuchte, den Sicherheitsgurt zu lösen und vermochte es nicht. Seine Hände zitterten, er konnte den Verschluss nicht öffnen. Endlich gelang es ihm, er wollte die Türe des Wagens aufschieben. Sie klemmte. Einen Augenblick blieb er ruhig sitzen, spürte seine Hände und Beine kaum mehr und bemerkte, dass er fror, zitterte wie das Kind. Sein Verstand funktionierte noch, er redete sich selbst beruhigend zu, dass dies nur der Schock sei und alles in Ordnung wäre. Auf einmal roch er Benzin, wusste dass es auslief und dass der Wagen Feuer fangen würde. Jetzt schrie er laut und verzweifelt. Wieder wartete er - lediglich den Bruchteil einer Sekunde und dann brüllte er erneut. Doch seine Schreie verhallten ungehört zwischen den Bäumen. Jetzt lag er da, am Straßenrand, wie Müll, den niemand mehr brauchte. Er wollte seine Beine hochziehen, doch sie blieben eingeklemmt. Seine Kräfte reichten nicht aus, um sich aus der Umklammerung des toten Stahls zu befreien. Blitzartig sprang der
Funke über und unheimlich schnell setzte sich das Fahrzeug in Brand.
Er vermeinte, in der Ferne eine Sirene zu vernehmen, doch da fasste jäh
das Feuer nach ihm, warf sich über ihn, drang in seine Hautfalten
ein und er schrie vor Schmerz, laut und in seinen empfindlichen Ohren missklingend.
Niemand berührten seine Schreie, niemand rettete ihn, den Mörder,
der jeglicher Strafe entgehen wollte, weil er keine Spuren hinterließ.
(c)
Karin Sittenauer 2000
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