![]() Warum befand ich mich
hier? Meine
Finger fühlten sich steif vor Kälte an und meine Zehen
hörten langsam auf zu
schmerzen. Trotzdem stapfte ich weiter hinter der Gruppe her, durch
tiefen
Schnee und lediglich von dem vollen, großen Mond beobachtet. Oder
beobachtete
mich noch jemand - oder etwas? Befanden sich Wölfe in der
Nähe, musterten mich
mit durchdringenden Augen und ich bemerkte sie nur nicht? Ich wusste es
nicht
und langsam schien es mir unwahrscheinlich. Die Entrüstung meiner
Frau kam mir
wieder in den Sinn, ich hörte erneut ihre spöttischen Worte: „Was willst du auf einer
Wolfsafari? Ihr Geheul hören? Lächerlich! Als ob du das nicht
ebenso im
Fernseher könntest. Was soll daran besonders sein?“ Sie hatte mich nicht
verstanden,
als ich ihr meinen Entschluss, nach Kanada zu fliegen, mitgeteilt hatte
und sie
hatte es auch nicht akzeptiert. Dabei hatte ich insgeheim gehofft, dass
sie
dieses eine Mal meiner Meinung wäre, einmal die gleiche
Begeisterung empfinden
würde. Ein Trugschluss, sinnloser Optimismus, nichts als ein
Wunsch, der wie so
viele andere nicht in Erfüllung gegangen war. Immer weiter wanderte die
Gruppe in
die Wildnis und ich wusste, dass ich ohne Führer nicht mehr
zurück zum Wagen
finden würde. Der Trupp bestand aus mindestens dreißig
Leuten, Frauen und
Männern, auch Teenagern, die nach einem Stück
ursprünglicher Natur suchten. Oder
weshalb nahmen wir sonst diese Strapazen auf uns? Zugegeben, ich hatte nicht
geahnt,
dass die Wanderung so lange dauern würde, dass mein Ziel derart
von jeder
Zivilisation entfernt sein würde. Und mit zunehmender Kälte
sehnte ich mich
nach Hause, auf meine Couch, zu meiner Frau. Wir würden einen
guten Film
ansehen, vielleicht ein Gläschen Wein trinken und später
würden wir zu Bett
gehen. Wir würden kaum miteinander sprechen; in der Tat konnte ich
an den
Fingern abzählen, wann wir uns die letzten Jahre zehn Minuten
unterhalten
hatten. Als ich sie fragte, ob sie mit nach Kanada fliegen würde,
da hatte sie
zehn Minuten gezetert, mich einen Narren geschimpft. Unser Führer, ein
Ranger, hielt in
seinen Bewegungen inne. Er winkte uns, näher zu kommen, uns neben
ihm
aufzustellen. Vor uns erstreckte sich ein weites Tal. Ein silbriges
Tal, aus
dem dunkle Baumspitzen empor ragten, von Nebel verschleiert und vom
Mondschein
beleuchtet. Jetzt umgab mich nur noch Stille. Nicht einmal mehr unsere
Stiefel
knirschten im Schnee, mein Atem schien mir aufdringlich laut. Ich war
weite
Wanderungen nicht gewöhnt, hätte im Vorfeld mehr für
meine Kondition tun
müssen. Jetzt hob der Ranger seine
Hände an
den Mund, bildete eine Art Trichter aus ihnen, bog seinen Kopf nach
hinten und
begann zu heulen. Er imitierte das Geheul der Wölfe und ich
starrte ihn an. In diesem Augenblick kam
mir mein
Vorhaben wirklich lächerlich vor. Ich sah den Ranger mit den Augen
meiner Frau.
Wie er in tiefster Nacht im Wald stand und heulte. Ich beobachtete die
Gruppenmitglieder, wie sie gespannt lauschten und schimpfte mich einen
Narren.
War ich wirklich so weit gereist, um einen Mann jaulen zu hören? Wieder versuchte er es,
holte tief
Atem und erhob seine Stimme. Mehrmals hintereinander ließ er den
lauten Ton
anschwellen, wieder verebben und dann verstummte er. Wir alle
schwiegen. Der
Wald war still und der Nebel kroch langsam empor, erreichte bereits
unsere Füße
und schien uns verschlucken zu wollen. Enttäuschung machte
sich in mir
breit, ich wusste sicher, dass die Wölfe nicht antworten wollten,
dass sie uns
Menschen für unwürdig erachteten. Und mit dieser Gewissheit -
endlich ohne
Erwartungshaltung - wandte ich mich der Natur zu, bewunderte erstmals
den
sternklaren Himmel, freute mich, einmal im Leben keinen
Straßenlärm zu hören,
genoss die Ruhe. Jäh riss mich ein
unheimlicher Ton
aus meinen Grübeleien. Ein Wolf! Konnte es wirklich ein Wolf sein?
Schauerlich
klang das Heulen, es drang aus den Tiefen der nebeligen Ebene zu uns
empor und
dann wurde es von weiteren Stimmen aufgegriffen. Ringsum antworteten
Wölfe dem
einen, der den Anfang gemacht hatte. Näher und ferner, lauter und
leiser
sprachen sie miteinander, unterhielten sich und obwohl ich sie nicht
verstand,
ahnte ich etwas von ihrem Wesen. Ich spürte die Wildheit, die
Unabhängigkeit,
aber auch die Fürsorge anderen Rudelmitgliedern gegenüber.
Ich lauschte den
Wölfen regungslos, dachte nicht mehr an zu Hause, nicht mehr an
den Trupp oder
den Ranger. Mein ganzes eigenes Leben interessierte mich in diesen
Momenten
nicht mehr, war wie weggefegt und unwichtig. Ich hörte einfach nur
zu, wie
diese gefährlichen, wilden, wundervollen, unabhängigen und
freien Tiere
heulten. Irgendwann wurde es
ruhiger,
verebbte ihr Gesang und ließ uns lauschend in der Stille unterm
Silbermond
zurück. Zunächst bewegte sich keiner, niemand sprach. Der
Ranger ahnte wohl,
wie ein Mensch sich fühlte, wenn er dies zum ersten Mal erleben
durfte. Er
gönnte uns diese Zeit, diese Zeit uns selbst zu finden. Uns selbst
in dieser
Fremde zu erkennen, zu erfühlen, was wir mit den Wölfen
teilten. Schließlich brachen
wir wieder auf,
stapften den weiten Weg durch Schnee zurück. Mir aber schienen
meine Füße
leicht, als hätte ich neue Kraft gewonnen. Ich hatte jedes
Zeitgefühl verloren,
wusste nicht, wie lange die Wölfe für uns und für sich
selbst gesungen hatten.
Aber ich spürte, dass sie mich stärker werden ließen.
Es war mir eine Ehre,
diese Nacht mit ihnen geteilt zu haben. In mir wuchs ein Vertrauen in
mich
selbst und ich wusste, dass ich den richtigen Weg gegangen war. Ich
bereute
nicht, so weit gereist zu sein. Der Mond schien in meinem
Rücken
und durch den dunklen Himmel über mir funkelte eine Sternschnuppe.
Ich durfte
mir etwas wünschen, doch welchen Wunsch empfand ich jetzt noch?
Schnell
überlegte ich, um ihn aussprechen zu können. Und dann
formulierte ich ihn in
Gedanken, einen Wunsch, von dem ich vor wenigen Stunden nicht gewusst
hatte,
dass er in mir schlummerte: „Ich wünsche mir, dass die
Trennung
von meiner Frau schnell und ohne Streit vonstatten geht.“ (c) Karin
Sittenauer 1999
Das Heulen der Wölfe ist ein Friedenssignal. Vor ein paar Jahren wurde ein Verhaltensforscher in Kanada von einem Wolfsrudel umzingelt. Er setzte sich nieder und heulte. Die Wölfe stutzten, begannen ebenfalls laut zu heulen und ließen den Menschen in Frieden. ![]()
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