Zeitsprünge



Thomas blickte aus dem zugigen Fenster. „Nun sieh dir dieses Wetter an. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen solchen Sturm erlebt zu haben.“

„Das ist die Strafe Gottes für deinen Frevel!“, antwortete die Mutter unheilschwanger.

Die Scheibe hielt den Sturm nicht gänzlich ab. Mit jeder erneuten Böe pfiff es eisig durch die Ritzen. Der alte, riesige Kastanienbaum vor dem kleinen Bauernhaus ächzte quälend. Thomas erwartete, ihn in dieser Nacht stürzen zu sehen. Dabei konnte er sich so gut daran erinnern, wie er ihn gepflanzt hatte – vor nicht einmal einer Woche in seinem anderen Zuhause.

Er wandte sich um, sah auf die kleine, siebzigjährige Gestalt, die auf dem alten Sessel kauerte. Sie trug ihre selbst gestrickten Strümpfe, die alte, verwaschene Schürze und in den Händen einen Rosenkranz. So hatte er sie seit jeher im Gedächtnis. Als er antwortete, verlieh er seiner Stimme einen ruhigen, milden Klang.

„Mutter, fang nicht schon wieder damit an.“

„Jeden Tag bete ich fünfzig Mal den Rosenkranz, damit Gott dir vergibt.“

„Es gibt nichts zu vergeben.“

„Sieh dir doch den Sturm an! Er wird mir das Dach über dem Kopf abdecken. Das ist die Strafe Gottes dafür, dass ich dich in die Welt gesetzt habe!“

„Ich dachte, für das Wetter wäre Petrus zuständig.“ Thomas konnte seinen unwilligen Spott nicht mehr verdrängen. Sie bemerkte es nicht.

„Alles lenkt Gottes Hand!“

„Dann hat er auch mich gelenkt, als ich es erfand, Mutter.“

Darauf erhielt er keine Antwort, wie jedes Mal, wenn er sie besuchte. Sie drehte den Rosenkranz ganz geringfügig in ihrer Hand, nahm die nächste Perle zwischen die Finger und murmelte monoton:

„Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder ...“

„Mutter, denkst du nicht, dass es Gottes Wille war, mir die Zeitreise zu ermöglichen? Warum musste ich beim ersten Versuch ausgerechnet dreißig Jahre in die Zukunft geraten? Ich sah, wie dieses ganze Land verwüstet wurde! Verseucht, bei dem gescheiterten Versuch, die letzten Kernkraftwerke abzubauen. Ich kann meine Kinder vor einem grausamen Tod bewahren, indem ich sie im neunzehnten Jahrhundert aufwachsen lasse. Hier müssten sie sterben!“

Die Mutter schwieg. Thomas sah sie eine Weile an. Sie wirkte so alt und klein. Vermutlich glaubte sie wirklich an das, was sie ihm vorwarf: Er hätte Gottes wunderbare Schöpfung missachtet. Er beugte sich zu ihr, fasste nach ihren Händen. Unter seinen Fingern drehte sie den Rosenkranz weiter, schien ihn nicht einmal zu bemerken. Sicherlich nahm sie ihn wahr, doch sie wollte ihn spüren lassen, wie sehr er sie enttäuschte.

„Mutter, während des Krieges hat man dir einen Ahnenpass ausgestellt. Stimmt das?“

„Vater unser im Himmel, geheiligt ...“

„Mutter, ich rede mit dir! Besitzt du den Ahnenpass noch?“

„...werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe ...“

„Herrje, du machst mich wahnsinnig!“, fuhr er sie an. Dabei hatte er sich diesmal so sehr vorgenommen, Ruhe zu bewahren. Er trat zurück, atmete tief durch, bis die Wut allmählich verrauchte. „Ich werde ihn suchen. Nicht dass du hinterher behauptest, ich hätte deine Sachen ohne dein Wissen durchwühlt.“

Thomas ging von der Küche ins Schlafzimmer. In der Kommode bewahrte sie wichtige Unterlagen auf, das wusste er. Die Zimmer im Haus waren klein, er konnte die Gebete seiner Mutter noch vernehmen. Das ganze Anwesen wirkte eher bescheiden. Natürlich tat es das! Immerhin war es nicht möglich gewesen, Vermögenswerte mit in die Vergangenheit zu nehmen. Als er vor vier Jahren mit seiner Frau und den drei Kindern den Zeitsprung gewagt hatte, musste er alles zurück lassen.

Er hätte niemals gedacht, dass er selbst der Erbauer seines Elternhauses war. Seine Mutter sprach mit so viel Stolz davon, dass sich dieses Haus seit 200 Jahren im Besitz der Familie befand. Thomas zog die Schublade der Kommode auf, nahm den flachen Karton mit Papierkram heraus und setzte sich auf den hölzernen Boden. Wie alt und abgetreten die Dielen wirkten, dabei hatte er sie erst vor kurzer Zeit verlegt.

Er stützte den Kopf auf eine Hand, mit der anderen wühlte er in Briefen und Urkunden. Endlich! Er stieß auf ein Heft, Größe DIN A 5, dunkelblau-graue Farbe, mit Reichsadler darauf.

Er begann zu blättern, seine Hände zitterten. Was er erwartete, machte ihm Angst. Er suchte die Bestätigung, dass er mit seiner Vermutung nicht Recht behielt. Er hoffte so sehr darauf! Er durfte seinen Namen nicht in der Ahnenreihe seiner Mutter finden.

Auf der ersten Seite stand lediglich: Ahnenpass für Maria Fuchs, A. G. Gruneberg-Verlag, Marburg/Lahn.

Thomas blätterte um, fand einen Ausschnitt aus Hitlers Reichstagsrede vom Januar 1937, über Vorsehung und Rassen. Die nächsten Seiten waren leer, nicht ausgefüllt. Aber dann kam die Ahnentafel. Zwei Seiten Stammbaum. Ganz unten stand der Name seiner Mutter: Maria Fuchs. Darüber ihre Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, Ururgroßeltern.

Für einen Augenblick schloss er die Augen, gönnte sich ein Zögern, bevor er las. Im Hintergrund betete seine Mutter weiter:

„Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld ...“

Er ging die Namen durch, systematisch, obwohl er wusste, dass er unter Ururgroßeltern zu suchen hatte. Und da stand sein jüngster Sohn: Mathias Fuchs, geb. 16.12.1798. Jedem Namen war eine Nummer zugeordnet, Mathias trug die Nummer 10.

Thomas blätterte weiter, fand die Nummer 10 und deren Erläuterungen: Sohn des Fuchs Thomas, Nr. 20 und der Herzog Magdalena, Nr. 21.

Da stand es schwarz auf weiß: Er selbst war der Ururgroßvater seiner Mutter! Ihm schwindelte, wieder schloss er die Augen, stützte den Kopf in die Hände.

„... und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung ...“.

„Sei endlich still“, murmelte er. „Hör auf, um Vergebung zu beten.“ Lauter fuhr er fort: „Ich kann nichts dafür, dass dieses Land in dreißig Jahren unbewohnbar sein wird. Hörst du, Mutter?“

Endlich sprach sie: „Ich will nichts davon wissen. Es verstößt gegen das Schicksal, das uns auferlegt wurde.“

„Was wurde uns auferlegt? Zu verharren und zu dulden? Keiner von uns befände sich am Leben, wenn ich dulden könnte!“

Jetzt hatte er es ausgesprochen. Seine Großeltern wären nie geboren worden, seine Mutter nicht und auch er nicht. Er selbst war der Stammvater dieser Familie. Sein Sohn würde sie weiter führen. Hätte er den Zeitsprung nie gewagt, es gäbe ihn und seine Kinder nicht!

„Bring meine Enkelkinder zurück!“ Sie funkelte ihn wütend an, ihre Stimme klang keifend. Ja, auch so kannte er sie. Wenn sie nicht betete, versuchte sie, ihre Umgebung zu beherrschen.

„Sie bleiben, wo sie sind. Ich gehe jetzt auch wieder. – Leb wohl, Mutter.“

Die alte Frau schenkte ihm kein Lächeln, keinen Abschiedsgruß, nur einen finsteren Blick, der ihn zu verdammen suchte. Jäh drehte er sich um, betrat den Gang, schloss die Küchentüre hinter sich, um ihren Blicken entzogen zu sein. Dann schluckte er zwei Tabletten, legte sich einen Gurt an und betätigte den Startknopf. Er durfte nicht in der Gegenwart verharren, musste in die Vergangenheit zurückkehren, um dieses Leben zu ermöglichen.
 © Karin Sittenauer 2000



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