Treferik Drachenherz

von Karin Sittenauer
 



Kapitel III

So kam sie denn wieder auf die Burg, auf die Burg, wo ihre Laufbahn als „unfertiges Fräulein“ begonnen hatte. Sie kannte den Weg dorthin noch gut und erinnerte sich auch an die unübersichtlichen Gänge. Diesmal jedoch wurde sie nur bis in den ersten Stock und dann in einen großen Saal geführt. Es war sicherlich der Speisesaal, doch jetzt wurde in ihm Gericht gehalten.

Wie sehr Aisa sich verändert hatte! Als sie das erste Mal diese Burg betreten und der Graf sie als Nutte bezeichnet hatte, wäre sie am liebsten im Boden versunken. Jetzt stempelte sie das gelbe Tuch am Ärmel ab und all die vielen Menschen im Saal starrten auf sie und auf ihre Begleiterinnen. Trotzdem war es ihr gleichgültig, so gleichgültig, als existierten diese Menschen nicht. 

Mit fremden Männern ins Bett zu gehen war nicht länger eine Schande. Es war ihre Arbeit, mit der sie ihre Unterkunft, ihr Essen und ihre Kleidung bezahlte. Zudem wusste sie nun, dass nicht nur die ledigen Männer, denen eine Ehe verwehrt blieb, zu ihnen in das Minnehaus kamen. Es waren angesehene Bürger und Priester darunter, Männer die gemeinhin als Vorbild gelten wollten. 

Für Aisa gab es keine Vorbilder mehr. Sie vermeinte, dass jeder Mensch etwas zu verbergen hatte und wünschte nur, dass Mitbürger nicht immer so erpicht darauf gewesen wären, es ans Tageslicht zu zerren. Vielleicht war sie vor einem Jahr wirklich ein Lamm gewesen, unschuldig und naiv.

Jetzt stand sie vor dem Grafen. An einer hohen Tafel sitzend blickte er darüber hinweg, ihr genau ins Gesicht. Wie Aisa bereits vermutet hatte, lebte er. Der Anschlag war fehlgeschlagen. Des Fürsten rechter Arm steckte in einer Schlinge und sein Gesicht wirkte bleich, wie das eines Kranken. Der Pfeil hatte sein Ziel, das Herz des Grafen, verfehlt. Hatte man den Schützen gestellt und festgenommen? Aisa hätte es gerne gewusst. 

An des Grafen rechter Seite war ein Platz frei und an seiner linken Seite saß sein Sohn Sitair. Er war blass, ebenso wie vor einem Jahr, nur schien er etwas gewachsen zu sein. Seine Hände zitterten, als er Aisa anstarrte. Sie jedoch drehte den Kopf wieder weg, wollte nicht an die Erste ihrer langen Nächte erinnert werden.

Unter den Leuten im Saal entstand Bewegung und Aisa wandte sich eher gleichgültig in die Richtung. Ein junger Mann schob sich zwischen den Menschen hindurch und sie machten ihm bereitwillig Platz. Dann blieb er nur kurz stehen und musterte die Angeklagten. Diesmal zuckte Aisa zusammen.

Liam! Er lebte! Wieso hatte man sie belogen? Er arbeitete doch auf der Burg. Warum hatte Sitair behauptet, ihn nicht zu kennen? Leben kam in ihr gleichgültiges Gemüt, ihr Herz schlug so laut, wie seit einem Jahr nicht mehr und sie spürte es an ihren Schläfen pochen. Die Fassade an ihrer kalten Außenmauer bröckelte stückweise ab und drohte, den Halt zu verlieren. 

Da zwinkerte Liam ihr zu und schritt selbstsicher auf den Tisch des Grafen zu. - Mitten durch den Saal, nicht darauf achtend, dass er beobachtet wurde, dass dieses Verhalten einem Dienstboten nicht zustand. Er trat hinter den Tisch, beugte sich zum Grafen und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Herrscher winkte ab, doch Liam gab nicht auf. Nochmals sprach er zu dem Grafen, woraufhin dieser sich ungeduldig erhob. 

Durch eine schmale Türe unweit des Tisches verließ er den Saal und Liam folgte ihm. Lange blieben die beiden weg und unruhiges Murmeln erfüllte den Saal. Vielleicht dauerte es nicht einmal lange, doch für Aisa schien es eine Ewigkeit. Nach einem vollen Jahr sah sie Liam wieder, ihn, den sie tot geglaubt hatte, und nun konnte sie nicht mit ihm sprechen! 

Trotzdem hoffte sie, dass er noch einmal in den Saal kommen würde und sie sich nochmals mit eigenen Augen davon überzeugen konnte, dass er unversehrt war. Schließlich kam der Graf - alleine. Von hinten jedoch, von der Türe, durch die Aisa den Saal betreten hatte, schritt ein Soldat auf sie zu und führte sie ab. 

Der Soldat schob sie unweit des Saales in einen Raum; schon stand Liam neben ihr und schloss die Türe. Er fasste nach ihren Händen und löste die Fesseln. Dabei murmelte er:

„Mein Vater hat mir erlaubt, mit dir zu sprechen.“

Er zog sie mit sich, an die gegenüberliegende Seite des Zimmers und schob einen Wandteppich zur Seite. Dahinter erschien eine Türe, die er leise öffnete.

„Sie werden bald unser Verschwinden bemerken und uns überall suchen. Uns bleibt nicht viel Zeit.“

Er wollte sie mit sich ziehen, doch Aisa blieb stehen. „Dein Vater?“, fragte sie verständnislos und er nickte.

„Der Graf, er ist mein Vater.“

„Aber warum ...?“, wollte sie weiter fragen, doch er unterbrach sie.

„Wir haben wirklich nicht viel Zeit. Wir müssen mein Pferd holen und durch das Burgtor gelangen, bevor wir vermisst werden. - Bitte Aisa, komm jetzt mit, ansonsten kann die Flucht nicht gelingen! Du wirst des Hochverrats angezeigt und ich will wahrlich nicht zulassen, dass sie dich hinrichten!“

Immer noch zögerte Aisa. Das ging alles so schnell, so unglaublich schnell. „Hat man den Täter gefasst?“, fragte sie vorsichtig.

„Den Schützen? - Nein, er ist entkommen. Wir wissen nicht einmal, wer es gewesen ist.“ 

Wieder wollte er sie durch die Geheimtüre ziehen, doch sie bewegte sich nicht. Durfte sie wirklich mit ihm gehen? Würde er es bereuen, wenn sie ihm gestand, dass sie im Minnehaus gelebt hatte?

„Aber du weißt doch gar nicht, was ich das letzte Jahr getan habe!“ Jetzt plötzlich erschien ihr das Dasein als Dirne wieder als Frevel.

Er jedoch grinste amüsiert: „Ich habe gesehen, in wessen Begleitung du gekommen bist und ich kenne durchaus das gelbe Tuch an deinem Ärmel. Ich kann mir denken, wo du gewesen bist. Du warst bei den Hübschlerinnen, dafür befand ich mich im Kloster. Irgendwie hebt sich das wieder auf, findest du nicht?“

Dieser seltsamen Logik konnte Aisa nicht folgen und seinem Lächeln nicht widerstehen. Sie ließ sich von ihm in den dunklen, verborgenen Gang führen, eine enge Wendeltreppe hinab und irgendwie gelangten sie in den Burghof. Dort riss er ihr mit einem Ruck das gelbe Tuch vom Ärmel und zog sie weiter in den Stall. Das Pferd erkannte Aisa sofort wieder. Als er den Sattel auf den Rücken legte und die Gurte eilig fest zog, fragte sie:

„Es ist also dein Pferd und nicht das des Grafen?“

Er nickte. „Ja, es gehört mir.“

„Dann heißt du gar nicht Liam.“

„Doch schon, es ist aber nur mein dritter Name. Man nennt mich beim Ersten: Tref.“

Treferik Drachenherz, kam es Aisa in den Sinn. Er war der Bruder des kleinen Prinzen - ihres ersten Freiers! Nein, unter diesen Umständen konnte sie nicht mit ihm gehen! Ob er es wusste? Das Pferd war fertig und er zog es aus dem Unterstand, schritt an ihr vorbei in Richtung Stalltüre, doch wieder folgte Aisa nicht. Nervös blieb er stehen.

„Willst du nicht kommen?“

Langsam schüttelte sie den Kopf. „Ich habe mit deinem Bruder geschlafen.“ Diesmal war er erschüttert, das sah sie ihm genau an. Seine Augen weiteten sich und seine Lippen zitterten. „Ich wollte es dir nur sagen, bevor du dich für mich in Gefahr begibst.“

„Wir sollten später darüber reden, wenn wir Zeit haben.“ Er streckte ihr die Hand hin, wartete, dass sie diese ergreifen würde und sprach dabei: „Bitte komm mit mir.“

Ja, sie kam mit ihm, ergriff seine Hand, fühlte die Wärme seiner Finger und hätte am Liebsten laut geweint. Sie wusste nicht warum, doch jetzt, nach einem langen Jahr, rannen ihr Tränen über die Wangen. Er schwang sich aufs Pferd und zog sie hinter sich in den Sattel. Sie legte ihre Arme um seinen Körper und dann trieb er das Pferd an. In rasendem Galopp verließen sie die Burg und niemand hielt den Sohn des Grafen auf. 

Aisa fragte nicht, wohin er sie brachte, sie hielt sich nur fest, lehnte ihren Kopf an seinen Rücken und schloss die Augen. Es war so schön, seine Nähe zu spüren, so unwirklich schön. Überhaupt fühlte sie sich wie in einem Traum und fürchtete, dass er in dem Moment enden würde, in dem sie die Augen öffnete. Die Bewegungen des Pferdes unter ihr und Liams - Trefs Muskelspiel vor ihr, es war wie das Versinken in ein Gleichgewicht, das sie noch nie gekannt hatte.

„Wir reiten jetzt in den Wald. Sei vorsichtig, dass dir kein Ast ins Gesicht schlägt“, hörte sie seine milde Stimme. 

Widerwillig öffnete sie die Augen und trotzdem verschwand er nicht wieder. Er blieb bei ihr, lenkte das Pferd zwischen Büschen hindurch, bis sie von hohem, dichtem Baumwuchs umgeben waren. Aisa konnte keine zwei Meter weit sehen und so mussten sie unwillkürlich vor Blicken von Außen verborgen sein. Tref sprang vom Pferd und hob Aisa herab. Er wischte ihr die Tränen von den Wangen und fragte leise:

„Warum weinst du?“

Seine Fürsorge machte sie nur noch empfindsamer. Es war, als würden all die Gefühle auf sie einströmen, die sie so lange verdrängt hatte. Sie sank an seine Schulter und weinte hemmungslos. Er hielt sie fest, strich über ihren Rücken, küsste ihr Haar, bis sie langsam wieder ruhiger wurde. Als sie antwortete lehnte sie noch an ihm. 

„Ich dachte die ganze Zeit, du wärest tot! - Es ... es ist so schön, dass es nicht wahr ist!“

„Warum hast du das gedacht?“

Jetzt trat sie einen Schritt zurück, blickte in sein Gesicht. Die blauen Augen, der liebevolle Blick, wie sehr hatte ihr das gefehlt! 

„Der Graf hat es mir gesagt und ich habe es ihm geglaubt.“

„Darf ich dir unter den gegebenen Umständen, hier unter dem ehrwürdigen Dach des Waldes Tornior, meine Frage stellen?“

„Welche Frage denn?“

Er ergriff ihre Hand, strich mit seinem Daumen darüber und lächelte wieder. „Die Frage, die ich seit einem Jahr auf der Zunge habe. Ich wollte ... ich will dich fragen ... nein, ich frage dich jetzt: Willst du meine Frau werde ?“

Aisa konnte es nicht glauben. Sie starrte ihn an, als wäre er ein Geist. Zuerst befreite er sie aus der Burg, dann verlangte er keine Erklärungen von ihr und jetzt wollte er sie heiraten. Sie wollte antworten, brachte zuerst keinen Ton über die Lippen, nickte schließlich und dann gelang ihr ein leises, kaum hörbares „Ja“. 

Er nahm sie in die Arme und nun küssten sie sich. Seine Lippen waren weich und die Berührung zeigte so viel Gefühl und Zärtlichkeit, dass Aisa schwindlig wurde. Danach hob er sie wieder auf das Pferd und sprach:

„Dann sollten wir uns einen Priester suchen.“
 



Obwohl die beiden nicht weit ritten brauchten sie lange, weil sie den Wald nicht mehr verließen. Mittlerweile suchte man sie sicherlich überall und es wäre zu gefährlich gewesen, die Straße zu benutzen. Es dämmerte bereits und im Schatten der Bäume war es beinahe dunkel. Dies machte das Vorwärtskommen noch schwieriger und Tref stieg immer öfters ab, um das Pferd zu führen. 

Die Sonne war bereits hinter den Hügeln verschwunden, als sie den Waldrand erreichten und das Gehölz verließen. Vages Licht ließ Aisa noch Umrisse von Gebäuden erkennen, einen Gebetsturm und von irgendwoher ertönte das Drehen eines Mühlrades.

„Weißt du, wo wir sind?“, fragte sie den jungen Mann.

Er nickte, was sie kaum erkennen konnte. „Das vor uns ist Moorshelme, ziemlich sumpfige Gegend und der Priester ist ein Säufer. Mein Vater jagt hier gerne nach Sumpfhühnern. Ich dachte, wenn ich dem Priester Geld gebe, sodass er sich Weinbrand kaufen kann, verrät er uns sicher nicht. Auch können wir in seiner Scheune übernachten, denn er ist nachts kaum mehr fähig, das Haus zu verlassen und jemandem von uns zu erzählen.“ Er machte eine Pause. „Das ist nicht sehr romantisch, doch ich hatte keine bessere Idee.“

Aisa griff nach seiner Hand und hielt sie eine Weile fest. Dann sprach sie: „Es ist mir gleichgültig, wer uns traut. Ich will nur mit dir zusammen sein.“ 

Er drückte ihre Hand fester und meinte: „So hat es kaum Sinn, wenn wir noch länger warten.“ 

Er führte das Pferd am Zügel und Aisa ging neben ihm her, zwischen dem dichten Wald Tornior und dem Dorfrand entlang. Sie suchten einen Weg zur Kirche, der sie an keiner Hütte vorbei führte. Neben der Kirche befand sich ein kleines Haus mit einem noch kleineren Stall. Dorthin ging Tref, versteckte das Pferd im Stall, vorerst ohne es abzusatteln und klopfte schließlich an der schiefen, hölzernen Türe. Es dauerte eine Weile, bis ihnen geöffnet wurde. Im Licht eines trockenen Kienspans erschien ein hagerer Mann, der Aisa kaum überragte.

Tref grüßte den Priester und sprach sogleich: „Wir wollten heiraten. Werdet Ihr uns trauen?“

Der kleine Mann schüttelte den Kopf. „Heute nicht mehr. Morgen könnt ihr wieder kommen.“

Tref ließ seine Hand zu dem Beutel wandern, der an seinem Gürtel hing. Er schüttelte daran und ein klirrendes Geräusch ließ den Priester aufhorchen. 

„Wir bezahlen dafür. Wir wollen keinen Hochzeitsgesang, nur trauen sollt Ihr uns - und eine Urkunde ausstellen.“

Der Priester rieb nachdenklich seinen Bart und nickte schließlich. „Das Geld will ich gleich.“

Tref überreichte ihm den Beutel und der Mann schüttete sofort die Münzen auf seine Handfläche. Aisa atmete tief ein. So viel hatte sie in einem ganzen Jahr nicht verdient. 

„Dafür werdet Ihr schweigen“, forderte Tref bestimmt. 

Der Priester schien aufgeregt und führte sie zum Gebetshaus. Er schloss sofort auf und trat als Erster ein. An dem ewigen Licht zündeten sie mehrere Kerzen an, die sie rund um den Altar verteilten. Das sah sehr schön aus, fand Aisa und die kleine, aus dunklen Balken gezimmerte Kirche wirkte malerisch in dem sanften Licht. 

„Kannst du schreiben?“, fragte der Priester den jungen Mann.

Dieser nickte. „Natürlich.“

Schon wurde ihm ein Dokument in die Hand gedrückt und er wurde aufgefordert: „Dann schreib dir deine Urkunde selber.“

Aisa lachte leise auf, doch ein beleidigter Blick des Geistlichen ließ sie wieder verstummen. Sie stellte sich neben ihren so lange vermissten Freund und beobachtete ihn, wie er das Dokument aufsetzte. Sie konnte nicht schreiben, doch Trefs Hand glitt flüssig über das Papier und es sah schön und ordentlich aus. Einmal fluchte er leise auf, als die schlechte Feder einen Klecks hinterließ und schon hörte er:

„In meiner Kirche werden die Götter nicht geflucht!“

„Verzeiht bitte, ich werde mich bemühen“, versprach er reumütig. 

Er wandte dem Priester den Rücken zu und so konnte dieser das breite Grinsen des jungen Mannes nicht erkennen. Aisa aber sah die verschmitzt blitzenden Augen, als er sie fragte:

„Hast du außer Elaisana noch einen Namen?“ 

„Ich heiße noch Mairi.“ Jetzt musste sie kichern. „Ich wurde nach zwei Heiligen genannt. Meine Eltern sind sehr gläubig.“

Die Feder glitt über das Papier und er grinste: „Ich bin übrigens Treferik Siachmand Liam von Leriend zu Enalim.“

Jetzt lachte sie wirklich laut los. „Du meine Güte, soll ich wirklich so heißen? Den Namen kann sich doch kein Mensch merken.“ 

„Wenn du mich heiraten willst, so wird dir kaum etwas anderes übrig bleiben.“

„Du hättest es mir ja früher sagen können, bevor du mich aus der Burg gerettet hast. Vielleicht wäre ich lieber ertränkt worden. - Na gut, ich nehme dich trotz dieses Namens“, foppte sie ihn. 

Er lächelte sie an, mit diesem Ausdruck, der ihr verriet, dass er sie gerne jetzt auf der Stelle geliebt hätte. Sie spürte, wie ihr Kopf glühte und wunderte sich darüber, dass sie noch so viel Schamgefühl empfinden konnte. Tref reichte die von ihm verfasste Urkunde dem Priester und sprach:

„Es fehlt nur noch Eure Unterschrift. Würdet Ihr uns jetzt also bitte vor den Göttern zusammengeben?“

Der Priester nickte. Er trug keine Kutte, es gab keinen Gesang und trotzdem wurde es eine schöne Trauung. Aisa hatte nicht den Eindruck, dass der Mann betrunken wäre, denn er sprach so gefühlvoll und sicher, erzählte von der Ehe, von Liebe und Vertrauen. Als die Zeit für den Eheschwur kam, ergriff Tref ihre Hände und hielt sie fest. Der Geistliche begann den Namen von dem Pergament abzulesen:

„Willst du, Treferik Siachmand Liam von Leriend zu ... .“ Jetzt stockte er und starrte den jungen Mann entsetzt an. Dann wich er einen Schritt zurück und flüsterte: „Euer Gnaden, das kann ich nicht tun! - Euer Vater wird mich dafür hinrichten lassen!“

Trefs Griff um Aisas Hände wurde fester. Nur daran erkannte sie, wie nervös er war. Seine Stimme jedoch klang selbstsicher wie selten zuvor. Gedämpfter und dennoch eisig sprach er:

„Ich habe Euch bezahlt und Ihr habt zugesagt. Ich habe keine Skrupel, mir Euch sofort - hier am heiligen Ort - vorzunehmen, falls Ihr nicht Euer Wort haltet. Was mein Vater mit Euch tun wird, liegt allein daran, ob ihr ausplaudert, dass wir heute hier gewesen sind. - Also fahrt fort!“

Seine Hände zitterten, er erwartete nicht, dass seine Rede irgend einen Eindruck machen würde. Der Priester jedoch schluckte, überlegte und Trefs Griff wurde allmählich wieder lockerer. Als der Geistliche wieder vor sie trat und zu sprechen begann, entspannte sich der junge Graf merklich.

„Willst du, Treferik Siachmand Liam von Leriend zu Enalim, diese Frau lieben und ehren, das schmerzliche, von den Göttern als Buße auferlegte Zweisein beenden und mit ihr ein Wesen werden, zum Wohlgefallen der Götter, bis dass der Tod euch scheidet?“

„Ja“, seine Stimme klang laut und deutlich, nur der vergebliche Versuch, ein Lächeln auf seine Lippen zu zaubern, zeigte, wie nah es ihm ging.

„Willst du, Elaisana Mairi Briand, diesen jungen Mann lieben und ehren, das schmerzliche,  von den Göttern als Buße auferlegte Zweisein beenden und mit ihm ein Wesen werden, zum Wohlgefallen der Götter, bis dass der Tod euch scheidet?“

Aisa musste schlucken, bevor sie etwas sagen konnte. Trotzdem klang ihr „Ja“ klar und überzeugt.

Der Priester schüttete Wein in einen irdenen Kelch und reichte ihn Tref. Dieser trank einen tiefen Schluck, Aisa tat es ihm nach und dann schüttete sich der Geistliche den Rest mit einer hastigen Bewegung in die immer durstige Kehle. Mit dem Handrücken wischte er sich den Mund und sprach:

„Hiermit erkläre ich euch, als Vertreter der wahrhaft Mächtigen, für Mann und Frau.“

Tref ließ Aisas Hände los und knotete ein Lederband von seinem Hals. Daran hing ein Ring, den er Aisa an den Finger steckte. 

„Ich trage ihn seit über einem Jahr bei mir“, murmelte er. „Endlich kommt er dorthin, wo er hingehört.“

Mit diesen Worten beugte er sich zu ihr und küsste sie flüchtig auf den Mund. Seine Worte rührten sie, zeigten ihr, dass er sie immer geliebt, nie damit aufgehört hatte, ebenso wie sie ihn. Sie reckte sich ihm entgegen und küsste ihn fester, zärtlicher und er sehnte sich nach ihren warmen Lippen. 

Er nahm sie in den Arm und sie hielten sich fest, bis der Geistliche hustete. Mit zittrigen Händen hielt er Tref das Dokument entgegen. Dieser nahm es entgegen und musterte es. Die Unterschrift des Priesters war wackelig und unsicher, doch sie bestätigte die Gültigkeit dieser Zeremonie. 

„Geht jetzt“, bat der Pfarrer ängstlich. 

Das junge Paar wandte sich ab.  „Danke“, flüsterte Aisa dem Geistlichen zu und dann verließen sie das Gotteshaus. 
 


Tref zog sie zurück in den Wald und dann beobachteten sie gemeinsam das kleine Gotteshaus, bis der Pfarrer es verließ und in seinem Haus verschwand. 

Eine Weile später, die Lichter im Dorf waren verloschen, schlichen sie zurück zum Stall, wo sie das Pferd wieder fanden. Jetzt erst nahm der junge Mann dem Tier den Sattel ab, kratzte ihm tastend die Hufe aus und lies es dann im Stall frei laufen. 

„Ich glaube nicht, dass wir jetzt noch verraten werden. Vor allem denkt der Priester, wir wären bereits wieder gegangen.“ Er kletterte eine Leiter hinauf und ließ sich im Heu nieder. „Komm her, Aisa, wenn wir uns schon nicht sehen können, so will ich dich wenigstens spüren.“

Sie setzte sich neben ihn und er legte seinen Arm um ihre Taille. Dankbar lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter. Eine Weile schwiegen sie beide, waren in Gedanken versunken. Dann jedoch räusperte sich Tref.

„Ich habe auf der Burg gesagt, wir reden später, wenn mehr Zeit ist. Ich meine - jetzt haben wir Zeit und wenn ich ehrlich bin, ich hätte schon ein paar Fragen.“

Aisa nickte. „Dann fang an“, sprach sie mit fester Stimme. 

Dennoch flatterte ihr Herz und ihr wurde plötzlich heiß. Wenn er bereuen würde, dass er sie geheiratet und die Burg seines Vaters verlassen hatte, um mit ihr in der Fremde zu leben, was würde er dann tun? Es wäre nicht schwierig, die Heiratsurkunde zu vernichten und sie würde ihn nicht daran hindern.

„Es ist nur ... weißt du ... mein Bruder, er ist doch erst fünfzehn. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er in die Stadt gegangen ist, um mit dir zusammen zu liegen. Wann ist es gewesen?“

„Es war nicht in der Stadt“, begann sie vorsichtig. „Es war auf der Burg, in der Nacht, nachdem mein Vater dich niedergestochen hatte.“

Er zitterte leicht, löste den Griff um ihre Taille. Aisa rückte von ihm ab. Jetzt wollte er nichts mehr mit ihr zu tun haben und sie würde ihn nicht zwingen, sie zu berühren. Er jedoch tastete nach einer Hand, fand sie und hielt sie fest. 

„Warum?“, fragte er. „Warum so schnell?“ 

Jetzt hätte sie gerne sein Gesicht gesehen, doch andererseits war sie erleichtert, es nicht sehen zu müssen. Der Druck seiner Finger wurde stärker. 

„Warum?“, fragte er noch einmal leise und sie konnte eine leise Spur von Vorwurf in seiner Stimme finden.

„Ich ... ich wollte es nicht. Mein Vater, er hat mich auf die Burg gebracht, er wollte mich nicht mehr im Hause haben. Und der Graf sagte, ich wäre seine Leibeigene und müsste tun, was er verlangt. Er erklärte, sein Sohn wäre vierzehn Jahre alt und ich müsste die Nacht mit ihm verbringen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hätte mich weigern können, doch ich war so verzweifelt. Ich dachte, du wärest tot und da war mir alles beinahe gleichgültig. 
Wenn Sitair mich nicht angerührt hätte, ich wäre so froh gewesen. Doch er tat es und mir fehlte der Mut, mich zu wehren. - Nächsten Morgen brachte mich ein Mann in das Minnehaus und die Wirtin bezahlte für mich. Seitdem lebte ich dort. Wenn ich weggelaufen wäre, hätte ich nicht gewusst wohin und die Wirtin passte ohnehin auf, dass ich es gar nicht erst versuchte.“

„Mein Vater hat dich verkauft?“, fragte er entsetzt.

„Ja, das tat er. Wenn ich gewusst hätte, dass er dein Vater ist, hätte ich seine Handlungen vielleicht besser verstanden.“

Tref zog sie zu sich, bis er sie in den Arm nehmen konnte. „Aber ich verstehe nicht, gerade weil ich sein Sohn bin. Wie konnte er dir so etwas antun, wo er wissen musste, dass ich dich liebe?“

„Eben deshalb“, flüsterte Aisa. „Kein Mann deines Standes heiratet ein unfertiges Fräulein.“

„Ich habe es aber vorhin getan und bin glücklich darüber.“ 

Unter seinen Küssen entspannte sie sich langsam wieder. Er war so zärtlich, ließ sich ins Heu zurück gleiten und zog sie neben sich, streichelte sie am ganzen Körper und tastete, ob sie auch wirklich bei ihm war. 

„Ich habe mich so nach dir gesehnt“, murmelte er, als wären die Worte nicht für sie bestimmt.
Sie umarmte ihn fester.

„Erzähl mir, wie ist es dir ergangen? Ich weiß nichts, außer dass du im Stall meiner Eltern gelegen hast und ich dir nicht helfen durfte.“

Er lachte leise. „Recht viel mehr weiß ich auch nicht. Man erzählte mir aber, dass deine Mutter meine Wunden verbunden und so meine Blutungen ein wenig gestillt hat. Damit rettete sie mir das Leben, auch wenn nicht mehr viel davon übrig gewesen sein muss. Man brachte mich auf die Burg und der Medikus erklärte meinem Vater, dass mir nichts und niemand mehr helfen könnte. Ich müsste sterben. 
Vater ist aber kein Mensch, der viel auf die Meinung anderer gibt. Er wollte nicht aufgeben und so wurde ich nach Grogtim in den Tempelbezirk gebracht. Ich hatte wirklich Glück, dass es dort einen Mönch gibt, der mehr von Heilkunde versteht als jeder andere. Er ersparte mir Aderlasse und Blutegel, dafür richtete er mich langsam mit Kräutern und Umschlägen wieder auf und vor allem mit diversen Beschwörungen, die einem die Haare zu Berge stehen lassen. 
Ein halbes Jahr verbrachte ich dort, bis der Mönch mir widerwillig erlaubte, wieder auf die Burg meines Vaters zu ziehen. Er war wohl der Meinung, dass ich in Enalim ein Saufgelage nach dem anderen abhalten würde und dies hätte mein Zustand sicher nicht erlaubt. 
Das nächste halbe Jahr verbrachte ich damit, nach dir zu suchen, doch wie du weißt, hatte ich keinen Erfolg damit.“

„Wie geht es dir jetzt?“, fragte Aisa besorgt und er lachte erneut.

„Im Moment fühle ich mich wunderbar!“

Sie zog ihm sein Hemd aus dem Hosenbund und schob ihre Hand darunter. Tref hielt ganz still. Vorsichtig tastete sie seine Seite ab, spürte die Narben unter ihren Fingerspitzen und zählte sie. 

„Siebenmal hat er auf dich eingestochen?“, fragte sie dann entsetzt.

„Genau genommen neunmal“, erwiderte er. 

Er nahm Aisas Hand und führte sie an die Stellen, wo seine Wunden gewesen waren. Dann spannten sich seine Muskeln an und er räusperte sich. Mit beschämter Stimme sprach er: 

„Das mit deinen Eltern tut mir Leid.“

Aisa begriff nicht und fragte: „Was meinst du?“

„Du weißt es nicht? - Mein Vater ließ deinen Vater in den Kerker werfen. Dort starb er. Vor drei Monaten schon.“ Er schwieg wieder, strich über Aisas Haar, um sie zu trösten. „Deine Mutter musste den Hof verlassen, er wurde neu verpachtet. Sie lebt jetzt bei einer deiner Schwestern.“

Aisa nickte, obwohl er es nicht sehen konnte. Die Nachricht vom Tod ihres Vaters traf sie, obwohl sie ihm im vergangenen Jahr stets nur böse gewesen war. Deshalb hatte sie sich nie nach ihren Eltern erkundigt. Sie brauchte ein wenig, bis sie es verdaute und während der ganzen Zeit hielt Tref sie fest und streichelte sie behutsam. Schließlich sprach sie:

„Meine Mutter mochte den Hof nie. Ich denke es gefällt ihr, wenn sie bei meiner Schwester leben darf. Die zwei haben sich immer gut verstanden.“ Sie entspannte sich wieder. „Ich bin müde, wollen wir schlafen? Es ist unsere Hochzeitsnacht.“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, diese Nacht schlafe ich nicht, so gerne ich möchte.“ Dieser Erklärung folgte ein fester Kuss, leidenschaftlich und drängend. Er strich über ihre Brüste, küsste ihren Hals und sie hörte ihn schwer atmen. „Dann könnte ich nicht hören, wenn jemand kommt. Ich will nicht noch einmal überrascht werden.“

Er hatte Angst, das wurde ihr jetzt erst bewusst. Leise fuhr er fort:

„Bevor es dämmert müssen wir wieder im Wald sein. Ich will nicht, dass uns irgendwer sieht oder hört. Wenn du ein wenig schlafen willst, werde ich dich wecken, wenn es Zeit ist.“

„Nein, dann bleiben wir beide wach. Wir können reden. Ich möchte beispielsweise gerne wissen, warum du mich angelogen und mir nicht deinen wirklichen Namen genannt hast.“

„Das ist leicht erklärt. Bei unserer ersten Begegnung habe ich dich beinahe umgeritten. Was hättest du von mir gedacht, wenn ich gesagt hätte, dass ich der junge Graf bin? Sicherlich hättest du mich verachtet und mich für rücksichtslos gehalten. Das Risiko wollte ich nicht eingehen. Als ich dir das erste Mal in die Augen gesehen hatte, musste ich einfach lügen, um dich kennen lernen zu können. Ich hatte mir gedacht, dass ich es dir später sagen würde, doch schließlich war ich der Meinung, dass es nicht nötig ist. Ich wollte dich heiraten und dies hätte bedeutet, dass ich die Burg ohnehin nicht mehr betreten und meinen Vater nicht mehr sehen konnte.“

„Wie alt bist du denn wirklich?“

„Ich bin jetzt neunzehn Jahre alt.“

„Da hättest du mir aber schon die Wahrheit sagen können!“, sprach sie vorwurfsvoll. Er küsste sie erneut, entschuldigend und bittend. 

„Sei mir nicht böse deshalb, von jetzt an werde ich immer ehrlich sein, das verspreche ich.“

Sie lächelte verschmitzt und verlangte dann: „Erzähl mir von deinem Leben auf der Burg. Wie fühlt man sich als Sohn des Grafen und mit was verbringst du deine Tage? Ich weiß gar nichts von dir. Außerdem vergeht so die Zeit bis zum Morgen, ohne dass wir aus Versehen einschlafen.“

Er begann zu erzählen und auf jede Erklärung folgte eine neue Frage. Einmal musste er doch lachen und sprach:

„Ich wusste gar nicht, dass du so neugierig sein kannst.“

„Nun, wenn ich mich recht entsinne, haben wir auch noch nie so viel Zeit zusammen verbracht wie heute.“

So kam der Morgen, den sie nicht an dem heller werdenden Himmel sahen, sondern an dem sanft ansteigenden Gesang der ersten Vögel hörten. 

 (c) Karin Sittenauer


 


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