(c) Karin Sittenauer 2001 Die Abenteuer aus Tir Usheen

Enalim, eine kleine Grafschaft in Rotritim
Im Jahre 1468 nach der Zeitrechnung der Menschen -
               2468 nach dem Elfenkalender

Viele Schriften aus Tir Usheen wurden aus alten Zeiten überliefert. Manche in den Bibliotheken der großen Menschenstädte, andere gut gehütet im Elfenland Beann Gulbain und weitere in den tiefen Stollen des Zwergevolkes. Diese jedoch hat bis jetzt noch kein Mensch zu Gesicht bekommen.  
Folgende Sage hat man mir ausführlich berichtet. Andere nur stichpunktartig, was bedeutet, dass ich meine Nachforschungen stets weiter betreiben werde, um mehr und mehr Überlieferungen für die Nachwelt festzuhalten. 


 

Treferik Drachenherz

von Karin Sittenauer
 
 

„Media vita in morte sumus.“
„Mitten im Leben
sind wir vom Tod umgeben.“

Notker von St. Gallen, 9. Jh.
 

Diese Geschichte ist relativ lange. Deshalb wurde sie auf vier Kapitel aufgeteilt. 
Kapitel I befindet sich auf dieser Seite, die Folgenden kann man hier mit direktem Link anspringen. Und Vorsicht: die Story ist eine Liebesgeschichte. Beim Schreiben hatte ich nicht den Anspruch, einem höheren Anspruch zu genügen. ;-) An und für sich müsste ich die Geschichte schon lange löschen, doch Sentimentalität hat mich bis jetzt daran gehindert.

Kapitel II Kapitel III Kapitel IV


Kapitel I

„Du musst jetzt gehen", flüsterte Aisa.

„Ich weiß", erwiderte Liam und nahm sie nur noch fester in den Arm. Er machte jedoch keine Anstalten aufzustehen, sich anzuziehen. Stattdessen küsste er ihren Hals, streichelte über ihren Körper und sprach dabei leise: „Ich wünschte, ich könnte für immer hier bleiben." Er sah ihr in die Augen und sie lächelte.

„Das möchte ich auch, doch das ist unmöglich. Meine Eltern dürfen dich hier nicht finden." Sie machte eine ausholende Geste, die den kleinen Stall, die Tierunterstände und auch den Heuhaufen, in dem sie lagen, mit einschloss. „Sie werden bald aus der Stadt zurück kommen und dann musst du weg sein!", sprach sie eindringlich.

„Und wenn du mit mir kommst?"

Aisa machte große Augen. „Ich soll mit dir gehen?"

Liam arbeitete auf der Burg des Grafen, sie hatte diese noch nie betreten. Sicherlich war das Schloss groß, doch sie konnte sich trotzdem nicht vorstellen, dass sie sich dort auf Dauer verstecken konnte. Und sie wollte das auch nicht. In einer Kammer zu sitzen und zu warten, bis Liam kam, so stellte sie sich ihr Leben nicht vor.

„Nicht auf die Burg, das wäre nicht möglich. Ich meine ... mein Vater ... er hat mir bereits eine Braut ausgesucht ... er würde es nie erlauben! Doch ich kenne ein Haus ... eher eine Hütte ... im Wald. Sie ist gut versteckt, dort könnten wir leben." 

Er stotterte plötzlich, das hatte Aisa von ihm noch nie gehört. Er war immer so selbstsicher, doch nun setzte er sich auf, konnte seine Hände nicht still halten und wich ihrem Blick aus.

„Natürlich nur, wenn du willst. Es wäre kein wohlhabendes Leben, wir hätten nur, was wir selbst erarbeiten und wir müssten uns verborgen halten. Wir könnten unsere Freunde nicht mehr sehen und unsere Eltern..."

Jetzt setzte sich auch Aisa auf und starrte ihn überrascht an. „Worauf willst du hinaus? Willst du mich fragen, ob wir heiraten?"

„Ja natürlich, das tue ich doch die ganze Zeit!"

Sie kicherte unabsichtlich. Er wirkte so schüchtern, beinahe unbeholfen. „Nein, das tust du nicht", widersprach sie.

„Tue ich nicht?" Sie nickte. „Ach ja, ich muss mich wohl hinknien! Weißt du, immerhin ist es für mich das erste Mal." Er kniete sich im Stroh vor sie, nahm ihre Hände in die seinen und atmete tief durch. Danach begann er förmlich: „Elaisana Briand, willst du mich ... ."

Die Stalltüre wurde aufgestoßen, Aisas Vater stampfte herein und stürmte auf Liam zu. Dieser suchte erschrocken in seinen Kleidern nach dem Dolch, doch er konnte ihn nicht finden. Da war der Vater schon hinter ihm, packte ihn am Nacken und schleuderte ihn zur Seite. Liam verlor das Gleichgewicht, knallte mit dem Kopf gegen die Stallwand und stürzte. 

Einen Augenblick war alles um ihn wie im Nebel, doch langsam lichtete dieser sich. Zu langsam, denn es war ihm unmöglich, dem großen Mann auszuweichen. Er hörte Aisa schreien und dann kniete der Vater schon auf seiner Brust. Er war schwer, so sehr sich Liam anstrengte, er konnte sich seinem Griff nicht entwinden. Da tauchte Aisa hinter dem Mann auf, zerrte an seiner Weste, wollte ihn von Liam herab reißen, doch plötzlich hatte der Vater ein Messer in der Hand und stieß Aisa nach hinten. 

Diese schrie schmerzhaft auf und Liam ergriff Panik. Wenn Aisa nun verletzt wäre! Er packte die Kehle des massigen Mannes, drückte zu, so sehr er es vermochte. Sein eigener Atem schien zu ersterben, das Knie des Vaters presste seinen Brustkorb zusammen, wie ein eiserner Ring, der darum gelegt war und stetig zugezogen wurde. 

Dann blitzte das Messer nochmals vor ihm auf und ein entsetzlicher Schmerz fuhr in seine Seite - wieder und wieder. Seinen Händen entfloss alle Kraft und sie glitten herab, ließen den Angreifer nunmehr unbehelligt. Er spürte noch eine tiefe Erleichterung, als das Gewicht von seinem Körper genommen wurde, hörte nochmals Aisas Stimme und mit dem donnergleichen Gebrüll ihres Vaters entschwanden seine Gedanken in unendlich weite Ferne.



„Du hast ihn getötet!", schrie Aisa entsetzt auf. 

„Zieh dich an!", brüllte der Vater anstatt einer Erwiderung. 

Er schleuderte ihr ihre Kleider entgegen. Sie jedoch fing sie nicht auf, stürzte stattdessen zu Liam und rief: „Ich muss mich um ihn kümmern! Er braucht einen Heiler!"

„Der Hundesohn braucht keinen Medikus mehr! Zieh dich jetzt an, du Flittchen!" 

Der Vater verpasste ihr eine schallende Ohrfeige, sodass sie nach hinten stolperte. In dem Moment kam die Mutter in den Stall, jammerte und winselte, zerrte ihre Tochter von Liam weg und zog ihr das Hemd über den Kopf. 

„Was hast du getan?", wiederholte sie unzählige Male und Aisa konnte nicht erkennen, ob sie damit den Vater oder sie selbst meinte. Sie half Aisa in ihr Kleid, schnürte mechanisch die Bänder. „Was hast du getan?", entströmte mit jedem Atemzug ihrem Mund, bis der Vater sie in seinem Zorn packte und zur Stalltüre hinausschob.

Aisa wollte die Pause nutzen, wollte nach Liam sehen. Vielleicht atmete er noch! Vielleicht gab es Hoffnung! Bevor sie ihren Freund erreichte, griff der Vater nach ihrem Arm und schleifte sie hinter sich her. Er sprach nichts, brüllte auch nicht mehr. Er stampfte nur vor sich hin und zerrte die Tochter mit. Zuerst wusste sie nicht, wohin er sie brachte, denn er ging nicht auf das kleine Bauernhaus zu. Er schritt daran vorbei, den schmalen Weg entlang und immer weiter. 

Aisa machte sich auch keine Gedanken um ihr Ziel. Sie empfand panische Angst um Liam, musste jemanden finden, der nach ihm sah. Vielleicht, so hoffte sie, würde sich ihre Mutter um ihn kümmern. Dann wurde der Weg breiter, mehr und mehr Menschen begegneten ihnen und bald sah die junge Frau die Stadt vor sich, die zu Füßen der großen, mächtigen Burg Enalim errichtet war. Graue, dicke Mauern richteten sich bis zum Himmel auf. Winzige Löcher starrten bedrohlich auf Aisa herab. Aus diesen würden Pfeile und damit Tod schießen, wenn man die Feindschaft des Fürsten auf sich zog.



Irgendwie erreichte es der Vater, dass er bis zum Grafen vorgelassen wurde. Sie standen in einem kleinen Zimmer vor ihm und der Graf zog unwillig die Brauen zusammen. Aisas Vater wartete nicht, bis man ihn zum Sprechen aufforderte. Er begann sofort:

„Ich habe meine Tochter mit einem Mann erwischt! Ich will sie nicht mehr in meinem Haus haben!"

Er schob sie auf den Fürsten zu und dieser musterte sie von Oben bis Unten. Dann hob er die rechte Braue spöttisch in die Höhe und fragte:

„Und warum kommst du damit ausgerechnet zu mir?"

Aisa hätte beinahe über die verblüffte Miene ihres Vaters gelacht. Andererseits jedoch war ihr nicht zum Lachen zu Mute. Sie war nur hysterisch, hätte am liebsten gebrüllt, geweint oder gekichert. Es fiel ihr schwer, still zu bleiben, doch die Angst vor dem mächtigen Mann und dem Zorn ihres Vaters hielt sie zurück.

„Wir sind Leibeigene, also gehört meine Tochter Euch", antwortete schließlich der Vater. „Bei mir kann sie nicht mehr wohnen, also entscheidet Ihr, was mit ihr geschehen soll!"

Er sprach es fordernd und die Augen des Grafen von Enalim schienen zu glühen. Trotzdem konnte man seiner Miene die Wut nicht ansehen. Abschätzend ließ er den Vater warten, wollte ihm seine Sicherheit durch Schweigen nehmen. Aisa jedoch konnte nicht warten, sie trat noch einen weiteren Schritt vor und hob flehend die Hände. In ihrer Stimme, ihrer Haltung lag nichts von Aufsässigkeit, sondern Angst und Verzweiflung.

„Herr, ich bitte Euch, mein Freund braucht Hilfe. Mein Vater hat ihn niedergestochen und mir nicht einmal erlaubt, nach ihm zu sehen. Ich weiß nicht, ob er lebt oder tot ist. Er wurde einfach liegen gelassen, in der Scheune und niemand kümmert sich um ihn!"

„Was kümmert mich dein Freund?", sprach der Graf scharf. Aisa jedoch gab nicht auf.

„Er arbeitet doch für Euch, lebt hier auf der Burg! Ihr müsst ihn kennen. Es ist Liam, der Sohn des Stallmeisters."

Überrascht starrte der Graf sie an, dann winkte er einem Lakaien. „Schicke jemand zu des Mannes Haus und lasst den Verletzten holen. - Gleichgültig, wer er ist", betonte er noch.

Aisa verstand den Sinn dieser letzten Worte nicht, doch ihr blieb keine Gelegenheit, darüber nachzudenken. Ihr Vater wollte den Mund öffnen und etwas sagen, ein strafender Blick des Grafen jedoch gebot ihm Einhalt.

„Du hast den Jungen also niedergestochen?" Der Vater nickte, wollte erklären, doch ein Wink schnitt ihm erneut die Worte ab. „Wenn der Junge für mich arbeitet, dann ist auch er mein Eigentum. Wie kannst du es wagen, meinen Besitz zu schädigen?"

Jetzt färbte sich das Gesicht des Vaters rot. „Wenn er meine Tochter entehrt...".

Aisa jedoch widersprach heftig: „Von Entehrung kann doch gar nicht die Rede sein. Wir lieben uns und wollten heiraten."

„So, er wollte deine Tochter heiraten und dafür tötest du ihn? Ich bin es, der hier über Recht und Unrecht entscheidet und ich genehmige oder verbiete Ehen. Du hast dir angemaßt, meine Rechte an dich zu reißen."

Die beherrschte Stimme des Fürsten war kalt und schneidend. Aisas Vater wurde merklich kleiner und sie bedauerte ihn nicht. Immerhin hatte er mit Liam auch kein Mitleid gehabt. Da kam der Lakai zurück, schwer atmend und verschwitzt. Die Strecke zum Hof und wieder zurück musste er in unglaublicher Eile zurückgelegt haben. Der Graf erkannte, dass etwas nicht in Ordnung war und nickte dem Diener zu. Dieser flüsterte ihm Worte ins Ohr und Aisa sah, wie der Graf erbleichte. Er stürmte mit dem Lakaien aus dem Zimmer und ließ Aisa mit ihrem Vater alleine.

„Du hast mich verraten", fuhr dieser sie sofort an. 

Er schritt auf sie zu und hob die Hand, um sie nochmals zu schlagen. Verächtlich ließ die junge Frau ihn heran kommen und als er zum Schlag ausholte fragte sie schneidend:

„Willst du nochmals den Besitz des Grafen beschädigen?" 

Ihr Vater hatte ihren Freund niedergestochen, hatte sie nicht nur verstoßen, sondern eigenhändig dem Grafen ausgeliefert. Hier musste sie mit anhören, wie von Menschen als Besitz und von Verletzungen als Beschädigung gesprochen wurde. Sie empfand vor ihrem Vater keine Furcht mehr. Sie hasste ihn und zugleich bemerkte sie eine große Erleichterung, dass sich jemand um Liam kümmerte. Wenn es noch eine Chance für ihn gab, dann hier bei diesen Menschen, die sich gute Heiler leisten konnten. 

Der Vater ließ die Hand sinken und schnaubte unwillig. Dann schritt er besitzergreifend das Zimmer ab, betastete die Einrichtung und starrte schließlich aus dem Fenster. Aisa war froh, dass er nicht mehr mit ihr sprach. Jetzt kamen mehrere Leute ins Zimmer. Zwei Frauen und drei Männer. Die Frauen nahmen Aisa in ihre Mitte und führten sie weg. Nach ihrem Vater blickte sie sich nicht um und er sagte ihr nichts zum Abschied.



„Wohin bringt ihr mich?" fragte sie die beiden Frauen. Sie waren noch nicht alt, höchstens zwanzig Jahre. 

„Du musst dich waschen und wir sollen dich vernünftig anziehen. Außerdem wird deine Wunde verbunden werden." 

Eine der Frauen, mit geheimnisvoll schwarzen Augen und einen verblüffend roten Mund, zeigte auf ihren linken Arm. Der Ärmel war von Blut durchnässt und jetzt erst erinnerte sich Aisa daran, dass ihr Vater sie verletzt hatte.

„Das tut gar nicht weh", sprach sie. 

„Trotzdem werden wir uns darum kümmern."

So geschah es. Aisa wurde in eine Wanne gesteckt und ihr Haar geschruppt, als hätte sie ihr Leben lang noch nie gebadet. Sie gewann die Überzeugung, dass die Frauen annahmen, sie hätte Flöhe und Läuse und noch so manches andere Getier an sich, doch es kümmerte sie nicht.

Die Wunde brannte, als heißes Wasser an sie kam und begann erneut zu bluten. Es musste wohl ein tiefer Schnitt sein. Jetzt schmerzte es auch wieder, holte Aisa einen Augenblick in die Wirklichkeit zurück, lenkte ihre Gedanken von Liam ab. Ihr wurde unwohl, als sie darauf blickte. Sie schwankte und fühlte vier Hände, die sie stützten. Die Frau mit den schwarzen Augen verband sie fachmännisch. Als sie fertig war, fragte Aisa:

„Wisst ihr, was mit meinem Freund ist? Ist er noch am Leben?"

Die Frauen schwiegen und dann schüttelten sie den Kopf. „Wir wissen gar nichts."

Sie steckten das Mädchen in ein schlichtes Kleid, das trotzdem schön war. Es war sehr tief ausgeschnitten und eng an ihrer schmalen Taille. Es betonte die Brüste und den anmutigen, schlanken Körper. Die Haare wurden gebürstet, am Feuer getrocknet und schließlich kunstvoll hoch gesteckt. Aisa verstand den Aufwand nicht, doch sie ließ es mit sich geschehen. 

Es war gleichgültig, was man mit ihr machte, wenn sie nur möglichst bald erfahren konnte, wie es Liam ging! Irgendwann schienen die Frauen mit ihr zufrieden, vor den Fenstern herrschte bereits tiefe Nacht. Wieder nahmen sie Aisa in die Mitte und führten sie durch finstere Gänge und über breite Treppen. Im obersten Stock blieben die Frauen vor einer verschlossenen Türe stehen und klopften an. Sofort wurde ihnen geöffnet, ein Diener trat zur Seite und ließ sie ein. 

Vor dem Kamin saß der Graf in einem Stuhl und musterte Aisa forschend. Er wirkte verändert, es schien ihr, als wäre er in diesen wenigen Stunden um Jahre gealtert. Doch nicht nur dies war anders, auch die Art wie er sie betrachtete war neu. Er zeigte wirkliches Interesse und dies machte ihr Angst. Warum verließen die zwei Frauen und der Diener den Raum? Weshalb schlossen sie die Türe, sodass niemand beobachten konnte, was in dem Zimmer vor sich ging? Der Graf winkte Aisa zu sich und sie trat misstrauisch näher. 

„Wie alt bist du?", fragte er. 

„Fünfzehn", antwortete sie leise.

„Dein Freund, was weißt du von ihm?"

„Wie geht es ihm? Ist er noch am Leben?", fragte sie aufgeregt, ohne ihm zu antworten.

„Er ist tot", erwiderte der Graf gleichgültig. 

Aisa wankte, ihr wurde schwarz vor Augen und sie versuchte sich irgendwo fest zu halten. Als sie etwas ertastete, griff sie danach und zuckte schmerzhaft zurück. Ihre Handfläche brannte und dies brachte sie wieder zur Besinnung. Sie hatte sich am Kamin die Hand verbrannt.

„Gib Acht. Verstümmelt kann ich dich nicht gebrauchen!", fuhr der Graf sie scharf an. „Was also weißt du von ihm?"

Aisa spürte ihr Herz nicht mehr, nur noch diese dumpfe Leere unter ihrer Brust und sie wunderte sich, dass sie noch atmen konnte. War es möglich weiterzuleben, wenn das Herz nicht mehr schlug? Dann aber erinnerte sie sich an die Frage des Grafen und begann zu sprechen. Sie erzählte von Liam, weil es ihr gut tat, mit jemandem über ihn reden zu können. Immer hatte sie ihre Begegnungen, ja sogar ihre Bekanntschaft verschwiegen und nun durfte sie alles sagen. 

Sie erzählte von ihrem Kennenlernen vor neun Monaten, als Liam das Pferd des Grafen bewegen musste. Er hatte sie nicht gesehen und hätte sie beinahe umgeritten. Auch ihre zweite Begegnung war zufällig, mitten im Wald hatte sie ihn an einem Teich beim Fischen ertappt. Er hatte sie gebeten, ihn nicht zu verraten und ihr mehrere Fische dafür angeboten. 

Sie hatte die Fische nicht angenommen, doch verraten hatte sie ihn nie. Von da an hatten sie ihre Treffen vereinbart, sich im Wald getroffen oder am Fluss. Sie hatten viel geredet, über ihre Familien, ihre Träume und Sehnsüchte. Irgendwann waren sie sich dann näher gekommen und aus ihrer Freundschaft war Liebe geworden.

Der Graf unterbrach sie kein einziges Mal, horchte schweigend zu und zeigte mit keiner Geste, was in ihm vorging. Als sie geendet hatte, sprach er lediglich:

„Du weißt, dass du als meine Leibeigene meinen Befehlen gehorchen musst?"

Aisa nickte. Es hatte so gut getan zu sprechen, doch jetzt fühlte sie, dass es ihr Abschied von Liam gewesen war. Sie hatte die Grabrede für ihre Liebe gehalten und nun wäre sie am Liebsten ebenfalls gestorben. Unendlicher Schmerz füllte ihr ganzes Sein aus, als würde ihr Herz gleichzeitig zerspringen und zermalmt.

„Nun denn", fuhr der Graf fort, „ich habe Pläne für dich gemacht, in den letzten Stunden. - Ich habe einen Sohn, bei ihm wirst du diese Nacht verbringen und morgen lasse ich dich ins Minnehaus der Stadt geleiten."

Das Minnehaus, es war die Unterkunft der Dirnen. Aisa traute ihren Ohren nicht. Und die Nacht mit dem Sohn des Grafen zu verbringen, das konnte doch nicht sein Ernst sein! Nicht nach allem, was diesen Tag geschehen war!

„Für was haltet Ihr mich?", fragte sie denn auch. „Ich bin keine Nutte!"

„So, bist du nicht?" Er blickte sie spöttisch an. „Du bist nicht verheiratet und doch keine Jungfrau mehr. Für was hältst du dich?"

„Ich habe Liam geliebt!" Dies war für sie Begründung genug. 

„Schon möglich, doch das ist jetzt vorbei und nun tust du, was ich dir befehle! Wenn du bei meinem Sohn bist, will ich nicht, dass du deinen Freund auch nur mit einem Ton erwähnst. Ich werde erfahren, wenn du es dennoch tust! Du wirst nicht weinen und nicht jammern. Er soll Spaß an deiner Gesellschaft und an deinem Körper haben."

Aisa bebte vor Schreck. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hätte verstanden, in den Kerker geworfen zu werden, doch nicht, mit dem Sohn des Grafen das Lager teilen zu müssen. Und dies wenige Stunden nach Liams Tod! Vorsichtig fragte sie:

„Warum ich? Warum schickt Ihr Eurem Sohn nicht eine Frau, die mehr Erfahrung hat? Warum braucht er eine erzwungene Liebe? Als Euer Sohn würden doch viele freiwillig bei ihm verweilen."

„Mein Sohn ist vierzehn Jahre alt. Ich will ihn nicht erschrecken“, sprach er verächtlich. „Er benötigt keine professionelle Nutte, sondern ein Mädchen in seinem Alter. Jetzt gehe, ich brauche meine Befehle nicht zu begründen und für gewöhnlich tue ich dies auch nicht."

Nach diesen harten Worten öffnete Aisa die Türe und der Lakai führte sie unverzüglich den Gang entlang. Die Burg schien verwinkelt, denn nach mehreren Abzweigungen und Treppen hatte die junge Frau keine Ahnung mehr, wo sie sich befand und woher sie gekommen war, nur dass die Gänge kälter wurden. Schließlich aber öffnete der Lakai eine der unzähligen Türen; er hatte nicht geklopft. 

Darin entdeckte Aisa ein Bett und wieder ein warmes Feuer im Kamin. Vorm Fenster aber, im dunklen Bereich des Raumes, stand ein Junge. Er schien kaum erwachsen, wirkte eher wie ein Elfjähriger, denn ein Bursche in seinem Alter. Die Türe hinter ihr fiel ins Schloss und nun befand sie sich mit dem Kind alleine im Zimmer.



Er schien ein wenig Angst zu haben, sprach kein Wort und kam auch nicht aus seinem Winkel hervor. Aus der dunklen Ecke starrte er mit sicherem Abstand zu Aisa und beobachtete sie. Die junge Frau wiederum musterte ihn eine Weile. Sein blondes Haar war glatt und ungewöhnlich kurz geschnitten. Er war schmächtig und blass, wirkte irgendwie krank. 

Immer noch stand Aisa hinter der Türe und wartete auf ein Wort von ihm. Dieses kam jedoch nicht, beinahe erwartete sie, dass er seinen Daumen in den Mund steckte und wie ein Kleinkind weinte. Nichts davon geschah, der Prinz bewegte sich nicht. Schließlich wurde sie ungeduldig und ergriff als Erste das Wort:

„Hast du verlangt, dass ich hierher komme?“

Er schüttelte den Kopf. „Mein Vater ordnete es an.“ 

Seine Stimme klang kräftig und klar. Dies stand im Gegensatz zu seinem schmächtigen Körper, machte Aisa jedoch bewusst, dass sie kein Kind vor sich hatte.

„Dann wolltest du es gar nicht?“ Sie war verblüfft. 

„Ich weiß nicht - ich meine - ich wurde nicht gefragt“, erwiderte er. Dann kam er auf sie zu, sah, wie sie ihre Hände rieb und schlug vor. „Wir sollten uns vor den Kamin setzen, du frierst.“ 

Er berührte sie nicht, setzte sich lediglich auf das weiche Fell und räumte ihr ebenso viel Platz darauf ein, wie sich selbst. Sie streckte ihre Hände den Flammen entgegen und überlegte, wie es nun weitergehen sollte. Über sein Gesicht huschte ein amüsiertes Lächeln und er vermutete:

„Es ist wohl wie eine Hochzeitsnacht. Man sieht sich zum ersten Mal im Leben und soll sich gleich anziehend finden. Oder eben ausziehen - wie du es lieber nennen willst.“

Verblüfft sah sie ihm ins Gesicht. Er war absolut kein Kind mehr und dann musste sie unwillkürlich lachen. Er lachte mit und der Bann war vorerst gebrochen. 

„Weißt du, mein Vater hält mich für einen ziemlichen Versager und deshalb arrangierte er das hier wohl. Er ist der Meinung, dass ich ohne seine Hilfe niemals in die Nähe eines Mädchens kommen würde.“ Wieder grinste er und Aisa wunderte sich über ihn.

„Du nimmst das alles sehr leicht, nicht wahr? Stört es dich nicht, wenn dein Vater dich verachtet?“

Er zuckte mit den Schultern und tat diesen Umstand als Banalität ab. „Schön finde ich es nicht gerade, doch ändern kann ich es trotzdem nicht.  - Und was ist mit dir? Mit deinen Eltern? Normalerweise schickt niemand seine Tochter alleine zu mir ins Zimmer.“

Aisa errötete unwillkürlich. „Mein ... mein Vater hat mich dabei überrascht, wie ich mit meinem Freund zusammen war. Er hat ihn getötet und dann hat er mich hierher geschleppt. Ich habe kein Zuhause mehr." Sie biss sich auf die Lippen und starrte ins Feuer.

„Warum hörst du auf? Willst du es mir nicht erzählen?“

Sie schüttelte den Kopf und flüsterte: „Ich hätte es gar nicht erwähnen dürfen, der Graf hat es mir verboten. Wirst du verraten, dass ich meinen Freund erwähnt habe?“

„Natürlich nicht!“, verneinte er sofort. „Für gewöhnlich sind die Dinge, die man vor mir geheim halten will, die wichtigsten. Ich habe einen Bruder, Tref. Er sorgt meist dafür, dass ich alles erfahre, was hier vor sich geht. Ich lasse meinen Vater in dem Glauben, dass ich ein Idiot bin, so habe ich meine Ruhe vor ihm. Du kannst über alles mit mir sprechen und er wird es nicht erfahren.“

Aisa nickte und dann fragte sie: „Wie alt ist dein Bruder?“

„Tref ist achtzehn. Wir sind Halbbrüder; Trefs Mutter verunglückte während einer Jagd und starb, als er gerade erst ein halbes Jahr alt war. Danach war Vater für niemanden mehr ansprechbar, kümmerte sich nur um Tref, verwöhnte und verhätschelte ihn. Er hätte ursprünglich meine Mutter heiraten sollen, doch dann hatte er sich in ihre jüngere Schwester verliebt und sie zur Frau genommen. Drei Jahre nach dem Tod seiner Frau hatten ihn seine Räte so weit, dass er wieder heiratete, diesmal wirklich meine Mutter. Ich bin ihr einziges Kind, ich glaube, nach der Hochzeitsnacht hat er sie nie wieder angerührt - zumindest gibt es Gerüchte diesbezüglich. Um mich hat er sich nie viel gekümmert, für ihn gibt es nur Tref.“

„Dein Bruder muss dann doch eitel und verwöhnt sein?“

Er lachte wieder laut auf: „Tref eitel! Nein, nie im Leben. Er ist schwer in Ordnung, der Einzige mit Herz und Verstand auf der Burg. - Schließlich trägt er den Namen eines berühmten Königs.“

„Welches Königs?“

„Vater hat ihn nach Treferik Drachenherz benannt.“ Er sah Aisas unschlüssigen Blick und fuhr fort: „Treferik Drachenherz war König unseres Nachbarlandes Dragdanagh. Nach dem Tod seines Vaters neidete ihm sein jüngerer Bruder, Prinz Lasitair, die Krone. Mit Hilfe eines mächtigen Magiers, der schon ihren ältesten Bruder getötet hatte, wollte er die Macht an sich reißen und sich vom Adel zum neuen König erklären lassen. Schließlich jedoch konnte ihn Treferik Drachenherz noch rechtzeitig aufhalten und seine Machenschaften verhindern. Er soll gerecht und weise regiert haben und ging am Ende sogar so weit, das Königtum aufzulösen und das Land einem frei wählbaren Rat zu übergeben.“

Aisa nickte und fragte: „Und nach wem wurdest du benannt?“

„Ich heiße Sitair“, erklärte er. „Sitair ist die Kurzform von Lasitair. Der Vergleich mit König Treferiks jüngerem Bruder liegt also sehr nahe.“

Entsetzt starrte Aisa ihn an. „Wie kann dein Vater so etwas machen? Er hat wohl eine seltsame Art von Humor!“

„Er hat gar keinen Humor“, sprach Sitair trocken. Nach einer kurzen Pause sah er Aisa an, als wäre ihm jetzt - viel zu spät - ein Gedanke gekommen. „Ich habe dich gar nicht gefragt, wie du heißt. Willst du mir deinen Namen verraten?“

Sie nickte. „Ich heiße Elaisana, doch alle sagen Aisa zu mir.“

„Sehr erfreut.“

Er streckte ihr die Hand entgegen und sie ergriff diese. Sie spürte eine seltsame Vertrautheit mit diesem jungen Mann, als würde sie ihn schon lange kennen. Seine Hand war warm und sein Griff stark, obwohl er für einen jungen Mann kleine Hände hatte. 

„Wir sollten langsam zu Bett gehen.“ Aisa erbleichte, jetzt war es also so weit. „Darf ich deine Frisur öffnen?“, fragte er zurückhaltend.

Zögernd nickte sie und er beugte sich zu ihr. Er löste die Bänder und Spangen und schon fielen die dunkelbraunen Wellen über ihren Rücken. Nur kurz berührte er das Haar, dann stand er auf und zog sie hoch. Gemeinsam setzten sie sich auf den Rand des Bettes. Aisa begann langsam, die Bänder ihres Kleides aufzuschnüren. Sie hatte Angst, ihre Hände zitterten, doch sie wusste, dass sie es hinter sich bringen musste. 

Jetzt hätte sie sich eine ganze Ladung von dem abscheulichen Brandwein ihres Vaters gewünscht. Ja, sie hätte sich sinnlos betrunken, bis ihr alles egal gewesen wäre. Sie hatte aber keinen Alkohol zur Verfügung und es war ihr durchaus nicht gleichgültig, als Sitair ihre Brüste berührte, als er sie zu sich unter die Decke zog und als er den Geschlechtsakt mit ihr vollzog. 

In ihr stieg erneut dieser unwiderstehliche Drang hoch, hysterisch zu kichern. Mit Liam hatte sie niemals die Worte „Geschlechtsakt vollziehen“ benutzt. Sie fand die ganze Sache lächerlich und abscheulich und doch hielt sie still, verletzte den Jungen nicht durch ein Lachen, das ihrem Schmerz und ihrer Hysterie entsprungen wäre und nicht seinem Unvermögen.

Hinterher nahm er sie in die Arme und schlief ein. Wie oft hatten Liam und sie gewünscht, zusammen bleiben zu dürfen, gemeinsam in einem Bett zu schlafen und keine Angst vor Entdeckung haben zu müssen. Jetzt lag sie hier mit einem Fremden und wenngleich er freundlich war, ihr ekelte und sie wünschte sich in weite Ferne.
 

Am Morgen weckte er sie dadurch, dass er ihr übers Haar strich. Es war eine zärtliche Berührung, nicht fordernd sondern liebevoll. Ihr Körper versteifte sich unwillkürlich, er wollte doch hoffentlich nicht noch einmal mit ihr zusammen sein! Er bemerkte es und stand bedachtsam auf. Leise zog er sich an und stellte sich dann einen Stuhl neben das Bett. Darauf setzte er sich und sprach:

„Erzähl mir von deinem Freund, wenn du willst. Du denkst ständig an ihn. Ich werde es Vater sicher nicht sagen.“

Aisa nickte, dann begann sie vorsichtig: „Du musst ihn kennen. Er heißt Liam und war der Sohn eures Stallmeisters.“

Sitair schüttelte den Kopf. „Unser Stallmeister hat keinen Sohn, das weiß ich bestimmt.“

Aisa starrte ihn entsetzt an. Deshalb hatte der Graf befohlen: „Wer immer der Verletzte ist ...“
„Aber er hat es mir doch erzählt! Liam hätte mich nie belogen!“

Wieder schüttelte Sitair den Kopf und erklärte: „Unser Stallmeister ist fünfzig Jahre alt und unverheiratet. Er hat keinen Sohn, zumindest nicht hier auf der Burg.“ Aisas enttäuschter Blick tat ihm Leid und er fuhr fort: „Beschreibe ihn mir. Sollte er wirklich auf der Burg leben, so werde ich schon erkennen, um wen es sich handelt.“

Aisa nickte, schluckte mehrmals und setzte sich auf. Die Decke wickelte sie bis zum Hals um ihren Körper und begann leise zu sprechen: 

„Er ist sechzehn Jahre alt und ziemlich groß. Er überragt mich um eine Kopflänge. Seine Haare sind blond und dicht, sie fallen ihm bis über die Schultern und er bindet sie im Nacken zu einem Zopf zusammen. Wenn er lacht - und er lacht oft - blitzen seine blauen Augen schelmisch auf. Er ist oft mit dem Pferd des Grafen unterwegs, weil er es bewegen muss. Ein großer, brauner Hengst mit schwarzer Mähne und schwarzem Schweif. An seinem rechten Arm hat er eine lange Narbe, die noch aus seiner Kindheit stammt. Er hatte sich damals mit einem Freund geprügelt und war in ein Fenster gestürzt, das in tausend Scherben zersprungen ist.“ Sie lächelte leicht, dachte daran zurück, wie er ihr die Geschichte erzählt hatte. „Dafür hat man ihn windelweich geprügelt.“

Sitair schwieg, starrte sie an und rührte sich nicht. Seine Lippen bebten leicht, jedoch zu kurz, als dass sie es bemerkt hätte. Als sie geendet hatte fragte er nur: 

„Und du sagst, dass er tot ist?“

„Mein Vater hat ihn getötet und ich konnte ihm nicht helfen, so sehr ich es versucht habe.“

„Wann ist das geschehen?“

„Gestern Nachmittag. - Kanntest du ihn? Weißt du, wie er wirklich hieß?“

Sitair schüttelte den Kopf und erwiderte: „Nein, ich habe ihn noch nie gesehen.“ Dann wandte er ihr den Rücken zu und sprach: „Es ist wohl besser, wenn du dich auch anziehst. Ich weiß nicht, wann sie dich holen werden. Wenn du willst, gehe ich und lasse dich alleine.“

Er war taktvoll und einfühlend. Aisa wünschte, sie hätten nicht zusammen geschlafen, dann hätte sie ihn wirklich gern haben können. So aber erwiderte sie:

„Ja, es ist mir lieber, wenn du mich alleine lässt.“

Er nickte und erhob sich. An der Türe blieb er stehen und bat: „Bitte verzeih mir.“ Ohne auf eine Reaktion zu warten, verschwand er schnell und schloss die Türe hinter sich.

  (c) Karin Sittenauer

 

 

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